Entschleunigung
Von: Elisha
Der Regen hat aufgehört, und langsam dringt die Sonne durch die grauen Wolken, lässt sie hell schimmern. Zeit für einen Spaziergang, endlich raus aus der Wohnung, rein in die Natur, oder zumindest durch die Strassen meiner Nachbarschaft. Wenn ich meine sonstige Runde drehe, versuche ich, laufenderweise meinen Rekord von sechs Minuten auf zehn Kilometer zu brechen, oder ich schreite mit Anorak und Regenhose mit dem Schwung meiner Stöcke durch die Gegend.
Heute ist alles anders. Steffen und ich haben nicht zu zweit an der Theke in der Küche gefrühstückt, sondern an dem riesigen Tisch im Wohnzimmer gesessen, mit zusammengewürfelten und bei Nachbarn ausgeliehenen Stühlen. Schliesslich sind alle zu Besuch, Anna-Lena und Tristan mit den Kleinen genauso wie Mama und Papa mit Oma Annemarie und Opa Hans-Werner, obwohl sie ja eigentlich schon Uroma und Uropa heissen müssten. Aber so genau wollen wir es nicht nehmen; die Kinder haben auch so schon genug Schwierigkeiten mit den langen Namen.
Jetzt dauert es schon, um überhaupt los zu kommen. Bis alle aufgestanden sind und die Reste des Frühstücks vom Tisch geräumt haben, laufen alle durcheinander.»
„Wo ist Michel? Er braucht noch eine frische Windel“, ruft Tristan, während er die benötigten Utensilien aus dem Wickelbeutel nimmt.
„Eben haben sie noch unter dem Tisch gespielt“, versuche ich zu helfen. Steffen müht sich ab, die nicht gegessenen Käse- und Aufschnittscheiben wieder von den Platten in ihren Verpackungen unter zu bringen. Nachdem meine Eltern schon alle Becher und Teller eingesammelt haben und in die Spülmaschine einsortieren, packe ich Marmeladen- und Honiggläser auf ein Tablett zusammen mit der Schokocreme. Auf dem Weg zur Küche krabbelt mir etwas zwischen meinen Beinen durch, dabei haben wir weder Hund noch Katze. Vergnügtes Kreischen von Lisa klärt mich auf, und ich rufe Tristan zu: „Hier sind sie, im Flur!“
Als alles abgeräumt ist, wollen alle noch einmal auf die Toilette. Meine Mutter hilft Oma Annemarie, bevor sie für den Spaziergang im Rollstuhl Platz nimmt. Auch mein Opa benötigt etwas mehr als seinen Stock, mit dem er sich durch unsere Wohnung bewegt, und draussen auf der Strasse hebt Papa den zusammengeklappten Rollator aus dem Kofferraum und zieht ihn auseinander. Währenddessen streitet Lisa im Wohnzimmer mit ihrer Mutter: „Nein, nein, ich muss nicht.“
„Geh noch mal, Lisa! Sonst musst du gleich wieder, wenn wir unterwegs sind.“ Es kann noch dauern. Ich nutze das gerade mal freie Bad kurz selbst.
Irgendwann haben wir es geschafft, befinden uns alle auf der Strasse. Natürlich will Michel erst mal laufen, so dass ich mir den leeren Buggy schnappe und neben Mama mit Omas Rollstuhl gehe. Zum Glück ist das Trottoir in unserer Strasse breit genug, so dass wir nicht im Gänsemarsch schreiten müssen.
Doch kaum sind wir losgegangen, gibt es den ersten Halt auf dem Parkplatz an der Ecke. Die Wagen haben Spuren im Rollsplitt hinterlassen, fast knöcheltiefe Mulden, die sich mit einer grauen Brühe angefüllt haben. Gut, dass die Kleinen ihre Matschsachen tragen: Gummistiefel und Regenhosen. Mit Kichern und Glucksen und sichtlichem Vergnügen hopsen die beiden in den Pfützen herum, so dass blitzende Fontänen unter ihren Füssen hervor spritzen. Anna-Lena zückt ihr Handy für Fotos, und mein Opa setzt sich auf die Sitzfläche seines Rollators und hält sich vor Lachen den Bauch.
Erst nach mehreren Minuten geht es weiter. Wir älteren mit unseren Mobilen kommen gut voran, doch die Kleinen zeigen erste Schwächen. Michel will in seinen Buggy, Lisa aufs WC. Ich drücke Steffen den Wagen in die Hand, gehe zu ihnen zurück und versuche zu locken: „Hinter der Kirche steht ein Apfelbaum. Wollt ihr mal gucken, ob ihr Fallobst findet?“
Wir haben Glück, es wirkt. Beide greifen meine Hände und trippeln voran, und während ich heimlich bange, dass die Eigentümer bloss nicht alles abgeerntet haben, geht es voran, an der Kirche mit den alten Grabsteinen vorbei zu dem kleinen Wiesenflecken, auf dem der Baum mit den roten Früchten steht. Ein einzelner Apfel liegt darunter im Gras, und Lisa hebt ihn auf und reicht ihn ihrer Mutter. Anna-Lena reibt die Frucht an ihrem Ärmel ab und steckt sie in die Manteltasche. Sie murmelt: „Für später!“ Da miaut etwas hinter uns, und ein kleines Fellbündel streicht um unsere Beine. Die Kinder sind begeistert, Tristan zückt die Kamera, und das handgrosse Kätzchen springt meiner Oma auf den Bauch und lässt sich genüsslich unter dem Kinn kraulen.
Es dauert, bis wir die letzte Etappe in Angriff nehmen können. „Wollen wir Kastanien sammeln?“, schlägt Anna-Lena vor und deutet auf den grossen Baum nahe unserer Wohnung. Ich will etwas erwidern, aber Steffen legt mir zwei Finger auf den Mund. Ich schweige, und wir setzen uns langsam in Bewegung. Die abgefallenen Blätter in Gelb und Braun auf dem Pflaster nehmen zu, je näher wir dem Baum an der Ecke kommen. Die Kinder laufen ein letztes Mal vor, suchen den Boden ab.
„Da!“ Lisa hebt etwas auf, grünbraun, aber weder eine glatte Kastanie noch eine stachelige Hülle. Ihre Mutter wackelt mit dem Kopf und wundert sich, doch Steffen nimmt ihr das Ding aus der Hand und zupft behutsam die Hülle ab. „Eine Baumnuss!“ Alle, die sich bücken können, schwärmen aus für weitere Kerne, während meine Oma ein frisches Taschentuch aus der Jacke zieht und für die Nüsse bereit hält.
„Jetzt müssen wir es nur noch in unsere Wohnung schaffen, um sie zu knacken“, seufze ich und rechne mit dem Streik der Kleinsten. Doch sie stürmen schon los. Auf nach Hause. Nun denn.
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