Alt sind die anderen
Von: Elisha
Waltraud sitzt mit einem Köfferchen auf ihren Knien und zieht einzelne Fotos heraus. Die Bilder ihrer Kindheit und Jugend sind, sofern sie den letzten Umzug überlebt haben, in kostbaren Alben mit Fotoecken und Pergamentpapier untergebracht und stehen oben im Regal, aber schon seit Jahren hat sie alle weiteren Bilder in Papiertüten gesammelt und hier verstaut. Sie betrachtet eins, auf dem sie mit ihrer damals hochschwangeren Tochter und ihrem Schwiegersohn vor der alten Kirche stand, einen Blumenstrauss in beiden Händen. Die goldene Konfirmation, auch schon wieder lange her.
Schweigend betrachtet sie ein anderes, auf dem ihre Mutter halb lachend, halb ängstlich auf eine Ziege starrt, die neben ihr auf eine Gartenbank geklettert ist. Die Beete und das Rasenstück gehören nicht zu der Wohnung, in der sie Jahrzehnte lang gelebt hat. Der Besuch im Streichelzoo war eine der Attraktionen im Heim gewesen. Waltraud hat das Foto nicht gemacht, ist auch nicht dabei gewesen, sondern hat es aus der Zeitschrift des Altenheims ausgeschnitten, in dem ihre Mutter untergebracht worden war. Auf dem Gesicht ihrer Mutter meint sie, die beginnende Demenz abzulesen. Oder war die Aufnahme vorher gewesen?
Waltraud denkt an die Zeit zurück, in der ihre Mutter allein in ihrer Wohnung lebte. Damals hatte es Streit gegeben zwischen ihr und den Geschwistern.
„Ich schaffe das nicht mehr“, hatte Elsbeth am Telefon geklagt. „Ich stelle ihr die Tabletten immer für die ganze Woche, aber sie öffnet die Box falsch, und alles kullert raus! Diese Woche war ich schon zum dritten Mal bei ihr.“
„Sie muss ins Heim!“ Für Waltraud hatte die Lösung auf der Hand gelegen.
„So einfach ist das nicht!“ Elsbeth hatte in hilfloser Wut geschnaubt. „Aber wenn ihr auch mal was übernehmen könntet! Du kommst alle paar Wochen mal, und Bernhard geht es anscheinend ganz am Arsch vorbei!“
„Er wohnt am weitesten weg und hat seine Arbeit“, hatte Waltraud ihren Bruder gewohnheitsmässig in Schutz genommen.
„Wir arbeiten alle und sind nicht mehr die jüngsten.“ Durch den Hörer hatte Waltraud ein Schniefen gehört. „Können wir uns nicht alle drei mal treffen und besprechen, wie es weiter gehen könnte?“
Es war ein hitziges Wochenende geworden. Bernhard hatte Listen von Zahlen verglichen, Kosten von Pflegediensten und Heimplätzen, und Elsbeth hatte geweint und gezetert, dass man doch nicht einfach über den Kopf ihrer Mutter bestimmen könnte. Dabei hatte sie doch eine Vollmacht!
„Stell dir mal vor, wie es für dich wäre, alles aufzugeben. Das ist ja auch eine schwere Entscheidung.“
Waltraud hatte die Bemerkung weggewischt und sachlich konstatiert: „Es ist doch das Beste für sie.“
Waltraud beisst sich auf die Lippe. Nein, sie hat es sich nicht vorstellen wollen damals. Alte Menschen werden gebrechlich oder dement oder beides, und dann können sie nicht mehr allein wohnen, das hat sie immer so gedacht. Dann müssen die Kinder ran und entscheiden, die nächste Generation, so war es mit ihrer Grossmutter und ihrer Mutter. Eine Träne löst sich aus ihrem Auge und klatscht auf das Foto mit der Ziege. Waltraud wischt hastig mit dem Daumen darüber.
Alt waren immer die anderen gewesen. Sie nickt bedächtig zu dem Gedanken, als wäre das die Lösung. Natürlich hatte sie insgeheim gewusst, dass auch sie mal alt sein würde. Aber dieser Zeitpunkt hatte immer in der Zukunft gelegen, als jetzt zu lebende Gegenwart war er doch nie geplant gewesen!
Tränen fallen aus beiden Augen, bilden Rinnsale auf ihrem Gesicht. Eilig schliesst sie den Koffer und legt ihn auf den Boden. Es klingelt dreimal an der Haustür, das Zeichen ihrer Tochter. Ein Schlüssel wird umgedreht.
Die nächste Generation entscheidet, so war es immer. Sie will nur helfen, redet Waltraud sich ein. Warum nur tut es so weh? Warum schämt sie sich, fühlt sich so ohnmächtig?
Ihre Tochter lässt den Blick im Wohnzimmer schweifen, nimmt wohl beiläufig auf, ob sich Unordnung oder Staub angesammelt hat.
„Hallo Mutter“, sagt sie mit einem Lächeln und setzt sich auf den Sessel ihr gegenüber. „Wir wollen ja überlegen, wie und wo du weiter leben willst.“ Sie macht eine kurze Pause und spricht dann weiter: „Dann sage mal als erstes: Was ist dir wichtig?“
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