Schnuppersprache
Von: Elisha
Es ist gerade mal sieben Uhr morgens, da fährt der Firmenwagen vor. Der Meister begrüsst mich mit Handschlag und deutet seinen Mitarbeitern mit Handbewegungen an, was sie alles mitnehmen sollen. Den Facharbeiter kenne ich schon vom letzten Mal, auch den jungen Lehrling, der eher bei den Arbeiten daneben steht und zuschaut. Den Besen trägt diesmal ein ganz junger Bub, und der Meister erklärt: „Das ist Daoud, der macht diese Woche eine Schnupperlehre bei uns.“
Ich nicke allen zu, habe schon Mineralwasser im Schatten des Schuppens bereitgestellt, denn heute soll es heiss werden, und ich habe immer Angst, dass die schwer arbeitenden Männer nicht genug trinken. Was bin ich froh, dass ich heute nicht in den Garten muss. Den Boden zu ebnen und den Rollrasen zu legen bedeutet Knochenarbeit, und das in der kommenden Hitze. Gut, dass sie so früh sind. Ich schenke mir noch eine Tasse Kaffee ein und bestreiche mein Brötchen mit Aprikosengelee.
Es dauert nicht lange, da steht Daoud vor der Terrassentür. Unschlüssig tritt er von einem Bein auf das andere, bewegt dabei stumm die Lippen. Übt er vielleicht einen Satz?
Ich öffne, und langsam und betont kommt über seine Lippen:
„Können wir Woge haben?
Das Gemälde eines japanischen Künstlers geht mir durch den Kopf, und ich frage „W-was?“.
Mir fällt auf, wie unhöflich das klingt, und ich füge hinzu: „Ich meine natürlich wie bitte?“
Und ich lächle ihn freundlich an.
„Eine Woge?“ Er kramt aus der hinteren Hosentasche ein kleines Büchlein und will gerade nachschlagen, doch ich habe verstanden.
„Du meinst sicher eine Waage.“ Er nickt begeistert und zeigt mir seine weissen Zähne. „ja, eine Waage.“
Mir ist nicht klar, wofür die Arbeiter sie brauchen, aber ich gehe ins Schlafzimmer und hole sie.
„Wir wollen mich wagen.“ Also ein Scherz der Kollegen. Vielleicht haben sie behauptet, dass man nur ab einem Mindestgewicht in dem Beruf arbeiten kann. Ich überlege, was ich sagen kann, aber die Lehrerin kommt in mir durch:
„Sie wollen dich wiegen, heisst es.“
Er nickt. „Wiegen. Danke schön. Ich will gut lernen.“
Er packt die Waage unter den Arm und geht zu den anderen. Ich höre Gejohle und Pfiffe. Anscheinend haben sie ihren Spass, dass er es wirklich ausgeführt hat. Und vermutlich steigen sie jetzt alle nacheinander drauf und wundern sich, warum sie zwei Kilo weniger wiegen als üblich. Schliesslich weiss ich, wie ich mich überhaupt zum Wiegen motiviere. Ich schmunzele.
Nach ein paar Minuten steht Daoud wieder vor der Terrassentür. Er hält die Waage in den Händen.
„Wir haben alle gewiegt“, murmelt er. Eigentlich wollte ich gerade meinen Stoff für die Schule vorbereiten, aber das lange Frühstück und die Unterbrechungen halten mich ab. Zumindest kann ich ja ein wenig Privatunterricht geben, denke ich und sage gedehnt: „Sie haben sich alle gewogen.“
Er sieht mich fragend an. „Gewogen?“
Ich nicke aufmunternd und freue mich über seinen Lerneifer. „Ja, gut, gewogen.“
Einen Moment scheint er nachzudenken und blickt schräg nach oben. Dann fängt er sich, reicht mir die Waage und sagt, bevor er wieder zu den Kollegen geht:
„Deutsch ist schwer. Danke für die Woge.“
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