Mon Dieu
Von: Elisha
Julia hatte genaue Pläne für ihren freien Tag. Sie liebte es, wenn René ihr den Hintern tätschelte und „Mon Dieu“ hervorstiess. Manchmal pfiff er auch dazu, um sein Wohlgefallen an ihrem Körper auszudrücken. Als sie sich kennen lernten, hatte er es mehrmals täglich von sich gegeben, und bevor es einen Tag ohne seinen lustvollen Ausspruch geben würde, hatte Julia beschlossen, Gegenmassnahmen zu unternehmen. Die Lösung war Shopping: eine neue knappe Jeans und sexy Unterwäsche waren angesagt.
Wie meistens war es ihre Schwester, die ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Seit Melanie vor Wochen mit ihrem Kind auf dem Arm heulend vor ihrer Tür gestanden hatte, wohnte sie im Gästezimmer und versuchte, sich nach der Trennung von ihrem ungeliebten Partner ein neues Leben aufzubauen. Der zweijährige Miro hatte den Ortswechsel bisher erstaunlich gut überstanden und war ein fröhliches Kind, das Julia ans Herz gewachsen war.
Gerade sass er unter dem Küchentisch, während Melanie sich am Telefon wand.
„Sie meinen heute?“, fragte sie mit gequältem Gesichtsausdruck und suchte den Blickkontakt zu Julia. „Gut, dann komme ich in einer Stunde zum Vorstellungsgespräch.“
„Heute?“, fragte jetzt auch Julia. „Heisst das …?“
„Was soll ich denn mit Miro machen? Du bist meine einzige Hoffnung.“
Also hatte Julia sich bereit erklärt, ihren kleinen Neffen mit zum Einkaufen zu nehmen. Im Supermarkt klappte das meistens ganz gut. Da blieb er brav im Kindersitz des Einkaufswagens sitzen und freute sich über jedes gelbe Teil, das man in den Wagen legte, gleichgültig, ob es sich um Bananen, Spülmittel oder Toilettenreiniger handelte.
Doch schon der Weg vom Parkplatz bis zum Kleiderladen zeigte ihr, dass es nicht so einfach werden würde. Die Strecke, die sie sonst in ein oder zwei Minuten hinter sich brachte, dauerte jetzt ein Vielfaches, nicht nur weil Miros kurze Beine nur winzige Schritte möglich machten, sondern auch, weil alles für ihn faszinierend war und aus jeder Kleinigkeit ein Spiel entstand. So kletterte er auf jeden der Findlinge, die den Parkplatz einrahmten, scharrte über die losen Aschestückchen und blieb bei dem Hund stehen, den eine Kundin neben dem Eingang angeleint hatte, in dem Versuch, mit Gebell Freundschaft zu schliessen.
Julia nahm ihn hoch auf den Arm und schritt zielstrebig in die Jeansabteilung. Natürlich fehlte ihr auf diese Weise eine Hand, während sie in einem der Fächer die Hosen prüfte. Sie setzte Miro ab und suchte nach ihrer Grösse. 36 konnte sie vergessen, 38 oder 40, je nachdem, wie sie geschnitten war. Schulterzuckend griff sie beide und suchte die Kabine.
„Komm, Miro, wir gehen anprobieren!“ Kein Kind war zu sehen. „Miro? Miro?“ Ihr vorher zuversichtlicher Ton klang hysterischer, ihre Stimmhöhe nahm zu. „Miro, wo bist du?“
„Hier!“ Ein wenig dumpf klang seine Stimme ein paar Meter weiter, von dem Fuss eines Ständers. Julia streifte die aufgehängten Blusen auseinander und hob das Kind hoch. Sie drückte Miro an sich.
„Mach das nicht noch einmal!“, sagte sie mit Tränen in den Augen. Auf dem Weg zur Umkleide griff sie noch zwei Garnituren Unterwäsche und bugsierte Kind und Kleidung in die Kabine. Dann musste es eben mit einem Mal gehen. Da es keinen Haken gab, legte sie die Sachen auf den Hocker und setzte Miro auf den Boden.
„Und jetzt bitte hier bleiben! Ich mach auch ganz schnell.“
„Was machst du?“
„Ich muss mich mal schnell umziehen.“
„Warum?“
„Ich will mir neue Sachen kaufen und muss schauen, ob die passen.“
„Warum?“
Mit einem Blick nach unten sah sie, dass Miro noch brav neben dem Hocker sass. Er strich mit dem Finger über die untere Kante der Kabine, die zwanzig Zentimeter über dem Boden endete.
„Hier gibt es grosse und kleine Hosen“, erklärte Julia weiter, während sie sich aus der Jeans schälte. „Da muss ich ausprobieren, welche mir wie angegossen passt.“ Sie hielt sich kurz den Spitzenschlüpfer an, sah auf das Kind zu ihren Füssen und schüttelte den Kopf. „Wird schon recht sein.“ Julia legte ihn zurück auf den Hocker und streifte die Bluse ab. Sie drehte sich kurz von dem Jungen weg und tauschte ihren Büstenhalter mit dem neuen.
„Was machst du?“
„Ich will auch einen BH kaufen, und da guck ich, wie er aussieht.“
Julia zog sich die engere Hose über, die sich gefällig an ihren Körper schmiegte. Sie besah sich im Spiegel und meinte zufrieden: „Nicht schlecht. Was meinst du?“
„Mon Dieu!“ Julia lachte. „Was hast du denn da aufgeschnappt?“
Wieder hörte sie: „Mon Dieu.“ In dem Moment ertönte ein entsetzter Schrei aus der Kabine nebenan. Der Blick nach unten zeigte nur noch die Beine des Zweijährigen. Der Rest schien in der Kabine nebenan zu liegen, und die Frau dort protestierte schrill gegen ihren Beobachter.
Julia fasste die Beine und zog ihn wieder in ihren Umkleideraum. „Entschuldigen Sie bitte!“, rief sie durch die Wand.
„Ich habe mich nur so erschreckt“, tönte es von der anderen Seite. „Ich habe nicht sofort erkannt, dass das Gesicht zu einem kleinen Kind gehört.“
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