Atommüll Schweiz, Sondierbohrung Bözberg 1
Von: Heiner Keller
Zur umfassenden Information der Leserschaft publiziert fricktal24.ch unter dem Titel „Standpunkte“ ungefiltert die Auffassungen von regional, kantonal und national tätigen Personen, Parteien und Organisationen zu aktuellen Themen. Die hier veröffentlichten Inhalte müssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln. Wir behalten uns vor, die Einsendungen zu prüfen und diese bei einem Verstoss gegen rechtliche Regelungen oder die allgemeine sittlichen Empfindungen von der Veröffentlichung auszuschliessen.
Vor rund 10 Jahren erzeugte das Geld der Nagra kommunikativ frischen Wind rund um den Bözberg (https://www.g20.ch/pdf/frischer-Wind-ueber-endlager.pdf). Nach der ersten Irritation und etwas Widerstand aus der überrumpelten Bevölkerung herrscht heute in der Opposition absolute Windstille.
Als neues Wahrzeichen des Bözbergs schraubt sich die Nagra-Sondierbohrung „Bözberg 1“ von hoch über dem Aaretal rund 1‘000 m in die Tiefe des Untergrunds. Unwidersprochen verbreitet die Nagra (Nationale Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle) ihre Standardbegründungen (z.B. Aargauer Zeitung, 1. Mai 2020) aus dem undemokratischen, mit organisatorischen, verfahrenstechnischen und fachlichen Mängeln behafteten „Sachplanverfahrens“ des Bundesrates. Die Gemeinderäte der Region hüllen sich vornehm in zustimmendes Schweigen.
Niemand macht sich in der Öffentlichkeit Sorgen um das Ansehen und die Zukunftsaussichten des Bözbergs. Die Plakate des Vereins „Kaib“ (www.kaib.ch) stehen als stumme Schlagworte „Kein Atommüll im Bözberg“ in der Landschaft und in Siedlungen. Ewig gleich, ohne Überraschungen gehören sie zur Region. Sie erinnern Bewohner und Gäste dauernd an das beabsichtigte Vorhaben. Der Verein gehört immer mehr als domestiziert-anerkannte Opposition zum organisatorischen Inventar des offiziellen „Sachplanverfahrens“. Gewöhnung, berechenbare Fantasielosigkeit, leblose Plakate und das Schweigen der Bevölkerung zementieren den Ruf des Bözbergs als politisch pflegeleichte „Location“ für die anvisierte „Verlochung“ des Schweizer Atommülls, angeblich in etwa 40 Jahren.
Windstille herrscht immer dann, wenn der Wind dreht. Es ist sehr viel passiert seit 2011. Die Saat der „Kommunikation“ ist wunderbar aufgegangen. Gemeinderäte sind mit Fusionen, internen Telefonkonferenzen und der Abarbeitung der Tagesgesgeschäfte vollkommen ausgelastet. Sie können sich nicht auch noch mit der eigenständigen Zusammenarbeit, dem Ansehen der Region oder gar mit aktuellen und künftigen Bedrohungslagen durch den Atommüll beschäftigen. Zumal sie im „Sachplanverfahren“ überhaupt keine Kompetenzen haben.
Der notrechtliche Lockdown von Gesellschaft und Wirtschaft beschleunigt die absehbaren Tendenzen: Kuscheln vor Experten, Geld nehmen, wo man kann, Eigeninitiative verhindern, Verantwortung bis zur Verantwortungslosigkeit aufteilen, „Risikogruppen“ und Abweichler identifizieren, sie nach Möglichkeit durch Ämter und Aufträge wieder ins System einzufügen (Domestikation), oder sie zu isolieren und langsam auszuhungern.
Dies gelingt den Kommunikationsabteilungen der Nagra, dem Bundesamt für Energie (BFE), der beauftragten Regionalkonferenz Jura-Ost (www.jura-ost.ch) immer erfolgreicher: Kritiker gehören meist sowieso der Risikogruppe an. Sie sind längst gestorben, bevor irgendwelche Stollen unter dem Bözberg die Straheln des vorhandenen Atommülls von der Gesellschaft fernhalten sollen. Beides ist eine Frage der Zeit: Auch Atommüll strahlt irgendwann nicht mehr. Nur dauert letzteres gut 1 Million Jahre, was ungefähr der dem Fünffachen dem bisherigen Lebensgeschichte des Homo sapiens entspricht.
Angesichts dieser Zahlen versteht man, dass Gemeinderäte und Kritiker keinen eigenen Wind mehr erzeugen. Der Lockdown des Bundesrats zeigt der Region, wie es ist, wenn man nichts mehr zu sagen hat, wenn sich ständig alles ändert und wenn all denen, die eine gute Lobby haben, bisher nicht vorhandene Gelder aus der öffentlichen Hand angeboten und aufgedrängt werden. Wer das bezahlen soll, wird, wie bei der „Entsorgung“ des Atommülls, die Zukunft weisen. Vorläufig ist Geld da.
Das Büro, die Experten und die willkürlich handverlesen ausgewählten Mitglieder (ohne Auftrag, ohne Verantwortung, ohne demokratischen Auftrag) der Regionalkonferenz Jura-Ost werden reichlich für ihr reglementiert-wohlwollendes Stillhalten honoriert.
Die Nagra fördert ganz offiziell eigene Propaganda-Vereine (z.B. Forum Vera) für Opinion Leaders, Netzwerker, Opportunisten mit Geld und Argumenten, die laufend an den Zeitgeist angepasst werden. Wo das nicht genügt, oder wo die „Bindung“ (Kundentreue) gefestigt werden soll, bietet die Nagra geladenen Gästen Reisen (z.B. nach Schweden oder Finnland) an. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes darf die Bevölkerung die Namen der Eingeladenen natürlich nicht wissen. Aber es waren etliche, die sich dank ihrer Funktion in der dörflichen Gesellschaft der Glückseeligen (z.B. Gemeinderäte) das sachlich nutzlose Reisli in die kristallin-gastfreundliche Landschaft des Nordens gönnten.
Und die Presse? Die ist inzwischen so totgespart, dass sie sich keine eigenen Reporter oder gar Meinungen, die vom Mainstream abweichen und potentiellen Inserenten aus dem Umfeld der Energie vergraulen könnten, leisten kann. Dem wirtschaftlichen Zwang gehorchend werden Medienmitteilungen und Studien unkommentiert übernommen. Eine Einordnung in das internationale Geschehen, ein Vergleich mit Gesetzen, Kriterien und Zielen und das Aufzeigen von Zusammenhängen, Abhängigkeiten und Konflikten unterbleiben vollkommen.
Und so kann die Nagra ihr verfahrenskonformes Bohrprogramm rund um den Bözberg nicht nur ohne Opposition durchführen, sondern auch noch für ihr Image als kompetente und auskunftsfreudige Organisation nutzen. Die Infozentren der Bohrplätze Bözberg 1 und Bözberg 2 bieten nach dem Lockdown willkommene Attraktionen für die regionale Naherholung. Die Gemeinde Bözberg, die sich vor Jahren vehement für die Änderung des Namens der Standortregion „Bözberg“ in „Jura-Ost“ eingesetzt hat, wehrt sich offensichtlich nicht mehr.
Die Atomkraftwerke und damit die von ihnen beauftragte Nagra spüren im Moment sehr viel Aufwind. Das bisherige Wachstum, auf das die Wirtschaft und ihre Politiker nach der Corona-Krise wieder hoffen, macht die verbleibenden drei Kraftwerke rund um den Bözberg für die Versorgungssicherheit der Schweiz praktisch unentbehrlich. Ihre wirtschaftliche und politische Macht und die Propaganda wirken: Der Bund (Bundesamt für Energie und Bundesrat) musste 2019 vor Bundesgericht klein beigeben, als sie die Abgaben der Atomkraftwerke für die „Entsorgung“ des Atommülls erhöhen wollten.
Im Jahresbericht 2019 eines Atomkraftwerks steht unverblümt: „„Wissenschaftliche Fakten, ökonomische Realitäten und physikalische Gesetzmässigkeiten sind keine Fragen des Willens, sondern bilden die Grundlage für politische Entscheide. Die Kommunikation sollte den Blick für dieses Ganze, für das Energietrilemma, öffnen, um zu übergeordneten Lösungen zu gelangen – der Wille, diese umzusetzen, kommt dann von allein.“ Das ist nicht mehr Windstille, sondern das ist Aufwind.
Ein paar bestehende Unsicherheiten und Ungereimtheiten werden sich im Laufe der Zeit auch noch kommunikativ kaschieren lassen: Atomkraftwerke liefern beispielsweise radioaktive Betriebsabfälle „in Bitumen eingebunden“ ins Zwischenlager (Zwilag) nach Würenlingen. Es ist bekannt, dass bituminierte Abfälle das grösste Problem für die unterirdische Lagerung in Tongesteinen darstellen. Sie sind brennbar, quellen in Wasser und sondern Gas ab. Sie dürften daher keinesfalls in ein Endlager (https://www.nuclearwaste.info/abfallkonditionierung-in-bitumen-asn-sagt-nein/), weil sie schon während des Einlagerungsbetriebs zu gravierenden Störfällen (Bränden) führen können. Nach dem Verschluss des Lagers kann die sicherheitsrelevante Einschlusswirkung (Barriere) des Gesteins infolge zunehmenden Gas- und Quelldrucks des nuklearen Mülls reduziert und damit die Langzeitsicherheit beeinträchtigt werden. Dies wiederum birgt die Gefahr einer vorzeitigen Verstrahlung der Landschaft und der Lebewesen.
Der Atommüll und die Gesellschaft haben noch einen weiten und teuren Weg der „Entsorgung“ vor sich. Die Corona-Krise zeigt, wie konkret formulierte Vorbereitungen missachtet werden, wie die Verantwortung bis zur Verantwortungslosigkeit aufgeteilt wird und wie rasch der Bundesrat beim ersten Auftreten eines Schlechtwetterfalls dramatisch mit Notrecht reagieren musste. Die Palette von möglichen „Krisen“ ist in Zusammenhang mit Atommüll wesentlich umfangreicher und die Auswirkungen für die Region sind erheblich „nachhaltiger“. Würde Deutschland für die Flüchtlinge aus der Schweiz wohl die Grenzen öffnen?
Der Aufwind und die zwischen Kraftwerken, BFE und ENSI (Aufsichtsbehörde) abgesprochene Kommunikation („wording“) erfasst und beflügelt natürlich auch die Nagra und ihre klinisch-harmlosen Bohrstellen in den Opalinuston unter dem Bözberg. Natürlich ist es nicht an ihr, sich, ihre Planung und ihre Absichten schlecht zu reden.
Wer aber soll diese „Aufgaben“ für eine sachgerechte und demokratische Entscheidung über den Umgang mit dem gefährlichen Atommüll übernehmen? Wer sorgt dafür, dass die Steuerzahler und die Hausbesitzer für die zunehmende Unwirtlichkeit und Belastung der Region abgegolten werden? Würenlingen erhält für das Zwilag Abgeltungen, obwohl die Gebäude und die Zufahrten weitab vom Siedlungsgebiet liegen. Warum ist das so? Weil es Widerstand gab.
Auf dem Bözberg waren nie entsprechender Widerstand und Forderungen wirksam. Diese Tatsache ist unabhängig von der Windrichtung. Die „Alten“ resignieren vor der Übermacht der Propaganda. Den Kindern und ihren Eltern bringt der Bundesrat jetzt die neue Corona-Disziplin bei. Damit sind sie dann vorbereitet, wenn sie die „Entsorgung“ berappen müssen.
Nach heutigen Kenntnissen und den Erfahrungen der bisherigen toleriert-gewollten Erfolglosigkeit der Nagra (https://www.g20.ch/pdf/Kommentar-Nachdruck-Broschuere-1982-NAGRA-angebohrt_AL_22-1-18.pdf) kann man sich zusammenreimen, wie es weitergeht: Der Aargau belegt die Pole-Position im Auswahlverfahren für das Rahmenbewilligungsgesuch (Abschluss Phase 3 des Sachplanverfahrens). Würenlingen, Villigen, Remigen, Riniken und Bözberg werden in etwa zwei Jahren die „auserwählte“ Standortregion sein.
Alles was jetzt noch passiert ist „Beilage“ mit millionenschwerer Augenwischerei: Egal, welche Ergebnisse aus den Bohrungen kommen, sie werden die (vorsorglich schon „sicherheitsanalytisch“ ermittelte) theoretische „Sicherheit“ bestätigen. Das ENSI wird still nicken und durchwinken. Die Losung heisst: Rahmenbewilligung auf Teufel komm raus, koste es was es wolle.
In ca. 20 Jahren und nach Ausgaben von mehreren Milliarden ist dann wohl vorzeitig Schluss mit der Schweizer Traum-Lösung eines Endlagers im Opalinuston des Bözbergs. Die Siedlungsdichte und die Wachstumsabsichten des Regierungsrates lassen doch keine sicher-verteidigbaren „Oberflächenanlagen“ zu: Neue nukleare Hochrisiko-Anlage für die Umpackung des Strahlungsmülls in Lagerbehälter, Zugänge zu Stollen, Zufahrten und Deponien.
Für den Umgang mit dem langlebigen Atommüll (HAA-Abfälle) fehlen Know-How (im Spital würde man von zu geringen Fallzahlen sprechen), Karriereaussichten und Geld. Selbst die ewig jungen Atomkraftwerke der Schweiz müssen einmal dem Alter erliegen und abgeschaltet werden. Dann bleiben nur noch die Sorgen der Entsorgung.
Die Realität der Corona-Krise zeigt doch eindrücklich, wie wenig autonom die Schweiz agieren kann. Wir sind nicht einmal in der Lage, simple Mundmasken oder Medikamente für die Bevölkerung herzustellen. Aber beim Atommüll tun wir so, als gäbe es einen eigenen Schweizer Weg. Wissen Sie, wer die Bohrungen auf dem Bözberg ausführt? Es sind Engländer, die über die Gerätschaften und die Erfahrungen verfügen, die in der Schweiz fehlen. Bei den Erntehelfern für die Landwirtschaft und den polnischen Pflegerinnen für Seniorenbetreuung zu Hause wird deren Not als billige Arbeitskräfte ausgenützt. Für die Entsorgung von Atommüll braucht es teure ausländische Firmen und Wanderarbeiter.
Es lohnt sich der Blick nach Frankreich Studienreise-nach-Frankreich. Wenn Sie vergleichen, wird rasch klar und heute schon absehbar: Weder unter dem Bözberg noch irgendwo sonst in der Nordschweiz ist ein europäisch-sicheres Atommüll-Endlager realisierbar. Für den kurzlebigen Atommüll (SMA-Abfall), der „nur“ wenige Hundert Jahre abgeschirmt werden muss, gibt es andere Möglichkeiten als das Endlager in der Tiefe.
Heiner Keller, Zeihen