Die Geschichte des Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettags ist eng mit jener des werdenden Bundesstaates Schweiz verbunden. Zum ersten gesamtschweizerischen Bettag kam es am 8. September 1796. Und seit 1832 steht auch das Datum fest: jeweils der dritte Sonntag im September. Sein eigentliches, heutiges Gewicht erhielt der Tag im Umfeld der Gründung des Bundesstaates von 1848.
Der Bundesstaat von 1848 war keine Selbstverständlichkeit, sondern musste errungen werden. Noch standen das junge Staatsgebilde und der Religionsfriede - zwischen Katholischen und Reformierten - auf wackligen Beinen. So war es klug, mit einem gemeinsamen Dank-, Buss- und Bettag auf die Verwurzelung in der christlichen Tradition hinzuweisen und durch die gemeinsame Besinnung dem noch fragilen Staatsgebilde ein festigendes Element zu geben. Damit wurde das Verbindende betont und der Respekt vor dem politisch und religiös Andersdenkenden gefördert. Heute wird der Bettag als ökumenischer Festtag begangen. Der Grundgedanke der Solidarität und der Toleranz von damals hat bis zum heutigen Tag nichts an Aktualität eingebüsst.
Der Staat ist allein nicht in der Lage, eine Gesellschaft der Toleranz und des gegenseitigen Vertrauens und Respekts zu garantieren. Werte wie Treu und Glauben kann keine Polizei erwirken. Es besteht vielmehr eine gegenseitige Ergänzung und Abhängigkeit zwischen dem Staat einerseits und den Religionen und Kirchen andererseits: Der liberale Staat garantiert den Religionsgemeinschaften die Religionsfreiheit. Die Religionen und Kirchen stützen und gestalten durch ihr ethisches Bewusstsein das Zusammenleben in der Gesellschaft. Sie vermitteln ihren Gläubigen moralische Regeln.
Verbindendes Fundament von Kirchen und Staat bilden die Menschenrechte.
Die Bedeutung der Religionen und Kirchen für die Führung des Staates zeigt sich auch darin, dass es kaum ein Gegenwartsproblem gibt, das nicht an den Kern des moralischen Bewusstseins führt. Diese Probleme lösen darum in den Kirchen und Religionsgemeinschaften häufig ethische Debatten und Analysen aus, die gleichzeitig auch einen Teil des demokratischen Diskurses bilden. Das gilt nicht nur für Flüchtlinge und Sans papiers, für die Sterbehilfe, die Stammzellenforschung und die Gentechnologie, sondern auch für unser Verhältnis zu Europa oder für die Verwendung der Goldreserven, ja sogar für die Sicherheitsstandards in Eisenbahntunneln, die Rauchverbote und die 0,5-Promille-Grenze. Es ist nicht die Aufgabe der Kirchen, auf diese Fragen pfannenfertige Antworten oder gar Parolen zu liefern. Vielmehr beteiligen sie sich am Diskurs und schärfen das Gewissen derjenigen, die entscheiden.
Welche Erwartungen an die Kirchen hat der Staat in diesem Zusammenhang? Vorhin sind die moralischen Regeln und das ethische Bewusstsein erwähnt worden. Es sind vor allem drei Funktionen, die mit Erwartungen des Staates an die Kirchen verbunden sind: eine Wert begründende, eine integrierende und eine kritische:
Die von den Kirchen aus dem Geist der Heiligen Schrift vertretenen Grundwerte sind für den Staat unentbehrlich. Es sind dies vor allem Achtung vor der Freiheit und der Würde der menschlichen Person, ferner Liebe, Friede, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Durch die Erhaltung und die Vermittlung solcher Grundwerte tragen die Kirchen eine hohe Verantwortung für den Staat und die Gesellschaft. Die Grundwerte stehen nicht zur freien Disposition. Sie sind Ausdruck einer humanen Lebensordnung und tragen wesentlich dazu bei, dass Recht und individuelle Ethik in Übereinstimmung gebracht werden und dass die Bürgerin resp. der Bürger das Recht nicht nur befolgt, sondern es innerlich bejahen kann. Die Kirchen sind Normen und Werte stiftende Instanzen und tragen so spürbar zur ethischen Debatte bei.
Der Staat ist auf einen möglichst breiten Konsens der Grundwerte angewiesen. Die Kirchen sind in diesem Sinne integrierende Kräfte.
Schliesslich hat die Kirche dem Staat und der Gesellschaft gegenüber auch die Pflicht, die Botschaft Christi zu verkünden und Kräfte zu kritisieren, welche die Menschen-rechte, die Menschenwürde und die göttliche Berufung des Menschen missachten.
Der damalige Bundespräsident Hans-Peter Tschudi hat die Beziehung von Staat und Kirche 1970 wie folgt umschrieben: "Die Kirche ist weder Dienerin noch Herrin des Staates, aber vielleicht sein Gewissen."
Im Namen des Regierungsrates der Präsident: Adrian Ballmer der Landschreiber: Walter Mundschin
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