Die Pianistin
Von: Pfr. Andreas Fischer *
Seit zwei Jahren ist Assel Abilseitova Kirchenmusikerin in der reformierten Kirchgemeinde Region Rheinfelden. Die international konzertierende Pianistin bringt musikalischen Glanz in die Kirchenräume. Und Klänge, die von der Weite und Tiefe ihrer Herkunft zeugen.
Assel Abilseitova (Fotos: zVg)
Da, wo sie aufgewachsen ist, holte man das Wasser direkt von der Quelle. Es gab Kühe, Schafe, Hühner, Pferde. „Die Steppe war gross, das Dorf war klein“, erzählt Assel Abilseitova. Die Kindheit sei mit vielen wunderbaren Erinnerungen verbunden, an ein Leben mitten in der Natur, an frisches Essen, an Milch und Butter und Kymys, das kasachische Nationalgetränk, eine Art gegorene Stutenmilch.
Bis sie fünf war, lebte Assel Abilseitova gemeinsam mit sechs Cousinen bei ihren Grosseltern. Die Eltern waren jung, als sie zur Welt kam, beide zirka zwanzig Jahre alt. Sie studierten in einer Stadt, die sechs Stunden Busfahrt vom Heimatdorf entfernt liegt.
„Dass ich bei den Grosseltern aufwuchs, ist in Kasachstan nichts Aussergewöhnliches“, sagt Assel Abilseitova. Die Familie sei nicht auf Eltern und Kind beschränkt, sie sei weiter gefasst, und der Zusammenhalt sei gross. Auch die Ahnen gehören zur Familie, jeweils am Freitag versammle man sich, spreche ein Gebet, tauche Brot in Öl und gedenke der Ahnen.
In gewissem Sinn, sagt die junge, weltoffen und urban wirkende Frau, sei sie eine Patriotin. „Kasachstan ist der Ort, wo ich meine Energie her beziehe. Wenn ich über Kasachstan fliege, spüre ich diese Energie, hier ist der Ort meiner Ahnen.“ „Individualismus“, fügt sie hinzu, „ist nichts für uns“.
Bollywood, MPB, Dombra
Ob es dort, in der Steppe, auch ein Klavier gegeben habe, frage ich. „Nein“, antwortet Assel Abilseitova, „aber ich habe Musik gehört“. Was für Musik? „Bollywood und MPB, also Musica Brasileira Popular“, sagt sie lachend. „Und wenn Besucher kamen, wurde auch Dombra gespielt, ein in Zentralasien weit verbreitetes Zupfinstrument.“
Und ja, sie habe schon auch früh einen Bezug zur europäischen Musik entwickelt. Ihr Grossvater – „eine wichtige Persönlichkeit in unserer Familie und in unserem Dorf“, betont Assel Abilseitova, „er hiess Kablan“ – war ein Experte für die Zucht von neuen Schafsorten, deshalb konnte er schon zu Sowjetzeiten in den Westen reisen.
„Dort kam er in Kontakt mit klassischer Musik, er besass diverse Bücher über Komponisten und war ein grosser Fan von Chopin.“ Assel Abilseitovas Mutter war besonders von Beethoven angetan. Sie träumte davon, Opernsängerin zu werden, doch die Eltern rieten ab, das sei kein guter Beruf für eine Frau in Kasachstan. Umso mehr förderte sie dann die Musikkarriere ihrer Tochter.
In den ersten Stunden befasste sich Assel Abilseitova mit Beethovens „Für Elise“, „das war meine erste musikalische Erfahrung“. Dann erlernte sie ein Jahr lang – „sehr langsam, sehr gründlich“ – die Basics bei Nina Bossina, einer älteren, warmherzigen Frau. Als Noten, Fingersätze, Handhaltung stimmten, wechselte sie zur Tochter von Nina, Irina Bossina, die sie mit grosser Hingabe förderte und die sie bis heute als ihre wichtigste Lehrerin bezeichnet. „Immer nach dem Unterricht durften wir bei ihr zuhause weiterüben, stundenlang, die Lehrerin kochte inzwischen für mich und die anderen Studentinnen.“
Royal Academy of Music
Schon bald – Assel Abilseitova war nun elf – nahm sie erstmals an einem Wettbewerb teil, in Italien. Dass sie den dritten Platz erreichte, war nicht nur ein grosser Erfolg, sondern auch eine grosse Erleichterung. Die Eltern hatten auf den Kauf einer Wohnung verzichtet, um ihr die Reise zu finanzieren. Der Druck war enorm.
In den kommenden Jahren gab sie Konzerte in verschiedenen Städten, als Fünfzehnjährige trat sie erstmals in Begleitung eines Orchesters auf, spielte das 1. Klavierkonzert von Franz Liszt. Mit sechzehn erfolgte der Übertritt in ein Kunstkollegium, mit zwanzig erhielt sie ein präsidiales Stipendium, um an der renommierten Royal Academy of Music in London zu studieren.
Der Start war hart, „ich war“, erzählt Assel Abilseitova, „zunächst untergebracht in einem billigen Hotel, wo zwölf Leute in einem Zimmer hausten, ich sprach noch nicht fliessend englisch, das Studium war sehr akademisch, ich war umgeben von Stars, die auf Weltniveau spielten, zum Lehrer gab es nicht die persönliche Beziehung, die ich zu Irina Bossina hatte.“ Doch Assel Abilseitova, die über eine enorme Willenskraft verfügt, ging ihren Weg.
Nach Abschluss der Studien in England zog sie weiter nach Basel, wo sie von 2014-2018 an der Musikakademie studierte und den Master sowohl in Performance als auch in Pädagogik erlangt hat.
Sie habe, fährt Assel Abilseitova fort, schon als Kind gewusst, dass sie einst fern von zuhause leben würde. Einmal habe sie draussen in der Steppe in den Sternenhimmel geschaut und sich selber in der weiten Welt gesehen, in vielen Ländern, mit vielen Menschen. Vermutlich habe sie zu viele Telenovelas geschaut, relativiert sie lachend die kindliche Vision. Doch tatsächlich sei sie immer offen für das, was das Leben bringt.
Zum Beispiel für das Project Agora
Die Idee entstand zu Coronazeiten bei einer Flasche Wein zusammen mit einer Freundin. Man philosophierte über den neumodischen Fachbegriff „Post-Genre“ und beschloss, ein entsprechendes Festival ins Leben zu rufen. Einen Monat lang sinnierte man über den Namen, „Genre“ klang zu abgehoben, „Festival“ zu klassisch, schliesslich kam man auf Project Agora, Agora, das griechische Wort für Markt, steht für das Zusammenkommen verschiedener Stilrichtungen, Project für das Unabgeschlossene.
2022 fand es erstmals statt, im Basler Kultur-Zentrum Don Bosco, dem Gannet am Hafen und dem Warteck-Areal fusionierten Pop und Barock, Techno und Jazz. „Es war eine unglaubliche Erfahrung, verbunden mit Gefühlen von Ekstase und Glück, die Atmosphäre war kreativ, schöpferisch, aus einer Idee ist ein tolles Ding entstanden, das Projekt ist für uns wie ein Baby“, sagt Assel Abilseitova sichtlich strahlend. „Dieses Jahr gibt es eine Zweitauflage.“
Schöne Seele
Im Frühling letzten Jahres wurde sie von einem Dirigenten in Kasachstan angefragt, ob sie als Solistin mit seinem Orchester das 3. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninoff aufführen wolle. „Das Werk“, sagt Assel Abilseitova, „ist nicht nur technisch, sondern auch emotional herausfordernd. Es hat eine grosse seelische Tiefe. Es ist nicht möglich, es ohne echte Gefühle zu spielen, man muss sich selber hineingeben, mit Haut und Haar, in jede Note.“
Ganz am Anfang steht eine einfache Melodie, „sie könnte“, sagt Assel Abilseitova, „aus der russischen Volksmusik stammen. Ich habe den Eindruck, ich kann sie stimmig spielen, beseelt, schön.“
Was sie mit „Seele“ und „Schönheit“ meine, frage ich. Sie glaube an die Seele, antwortet Assel Abilseitova, sie habe ein Wissen darum, dass wir nicht auf unseren physischen Körper begrenzt sind. „Die Seele ist schön“, fährt sie fort, „und das bedeutet: einfach, ehrlich, ohne Hintergedanken, in diesem Sinne: rein. Jeder Mensch trägt diese Schönheit in seiner Seele, meine Aufgabe als Künstlerin ist es, sie durch meine Musik auszudrücken.“
* Andreas Fischer ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Rheinfelden.
Konzert auf zwei Flügeln
Von allen grossen Klavierkonzerten, heisst es, habe dieses im Klavierpart am meisten Noten pro Sekunde – mehr als alle 27 Mozart-Klavierkonzerte zusammen. Doch auch wer sich nicht für Quantität interessiert, wird berührt sein von der unsagbaren Schönheit dieses Werks:
Am Samstag, 11. März um 18.15 Uhr bringt Assel Abilseitova das 3. Klavierkonzert op. 30 in d-Moll des russischen Komponisten Sergei Rachmaninoff (1873-1943) im Kirchgemeindehaus Kaiseraugst zur Aufführung. Den Orchesterpart spielt der Pianist Rani Orenstein.
Der Eintritt ist frei.
«fricktal24.ch – die Online-Zeitung fürs Fricktal»