Sylvains Welt
Von: Pfr. Andreas Fischer
In der Passionszeit vor Ostern hängt im reformierten Kirchgemeindehaus Kaiseraugst ein Kreuzweg. Gemalt hat ihn der Art-brut-Künstler Silvain Bouillard.
Art-brut-Künstler Silvain Bouillard (Fotos: zVg)
Man fährt zu einem abgelegenen Bauernhof irgendwo in der Nähe von Fribourg und tritt ein durch einen schmalen Gang. „In diesem Couloir“, sagt Sylvain, „hat meine erste Ausstellung stattgefunden“.
Sylvain bezeichnet seine Kunst als „Art brut“. Damit, sagt er, sei nicht nur die Kunst von psychisch Kranken und geistig Behinderten gemeint, sondern auch jene von Marginalisierten. Kunst der Randständigen. Ob er denn ein Randständiger sei, frage ich. Nun, er sei arm, antwortet er. Mehrfach im Gespräch kommt er auf die Revolution zu sprechen. Doch es ist eine sanfte Revolution.
Sylvain beklagt sich nicht und klagt nicht an. Einzig in einem Text, auf den er mich hinweist in einem von ihm verfassten Heft mit „Gedichten und Zeichnungen“, bricht es einen Augenblick lang aus ihm heraus: „Die Illusion der Bourgeoisie ist es, die Revolution zu machen. Aber wir, die Schafe, also ich, wir sind für sie NICHTS.“ Der Text ist, wie alle Gedichte im Heft, handgeschrieben, „also ich“ ist doppelt unterstrichen. Gleich daneben steht: „Eine Gewissheit: Das einzige, was die Revolution schafft, ist die Natur.“
Auch Jesus ist für Sylvain ein Revolutionär, „doch kein militanter“. Vielmehr sei er „ein Verführer“ gewesen, er verführte seinen Freundinnen und Freunde in eine Welt, die sie nicht kannten, „die Schönheit des Herzens, die Schönheit des Lichts“. „Er war ein Mensch wie wir“, sagt Sylvain, „und er kam bis dorthin, so weit!“ „Bis wohin?“, frage ich nach.
„Seine Botschaft war ganz einfach: Die Liebe, das ist es, das war seine Botschaft, die universale Liebe!“ „Wer war Jesus?“, frage ich. „Ein Kind!“, ruft Sylvain spontan aus. Alles ist spontan bei diesem 60-Jährigen, der selber wirkt wie ein Kind. Die Antworten auf meine Fragen sind unvorbereitet, unerwartet auch für ihn selber, sie überraschen Mal für Mal.
Das perfekte Werk
Ob er etwas sagen könne zur Botschaft seines Oeuvres, frage ich. Manche Künstler würden gereizt reagieren auf eine derart unbedarfte Frage. Silvain nicht. Er sinniert, schaut auf die Uhr, läuft zum Ofen, in den er einen Pack Budget-Pommes gelegt hat, „mein Sohn kommt bald“, sagte er entschuldigend, dann:
„Ich weiss nicht, ob ich eine Botschaft habe. Ja, vielleicht diese: Silvain, es ist möglich, du kannst es schaffen! Nein, ich male keine Blumen und keine Porträts. Warum? Weil ich keine Lust darauf habe. Ich will keine Auftragsarbeiten erledigen, ich will machen, was ich will. Meine Kunst ist die eines Verrückten. Ah ja, und vielleicht noch dies: Ich suche Perfektion. Eines Tages will ich ein Werk schaffen, von dem ich weiss, es ist perfekt. Dafür, daraufhin arbeite ich.“
Was er mit Perfektion meine, frage ich. Es gehe um die Perfektion eines Kindes, lautet die Antwort. Ein Werk zu schaffen wie ein Kind, „brut“ eben, roh, unverstellt, radikal, naiv. Oder anders gesagt: revolutionär, wie nur die Natur revolutionär sei.
In all seinen Werken gehe es um die Verschmutzung der Natur, die Entfremdung des Menschen vom Eigentlichen. „Das beeinflusst meine Kunst, immer!“ Mit Verschwörungstheorien habe er nichts am Hut, Covid sei aus seiner Sicht kein grosses Problem, der Krieg in der Ukraine und die vielen anderen Kriege in der Welt aber schon. Und eben die Umweltverschmutzung, sie am allermeisten.
Ob er den Kreuzweg denn in diesem Zusammenhang gemalt habe, frage ich, ob es um das Leiden der Kreatur gehe? Sylvain antwortet nicht direkt. Er sagt, seine Kunst sei sehr untypisch. Das gelte auch für den Kreuzweg. Sein Sohn habe gelacht, als er die Bilder sah. Sie seien nicht modern, habe er gesagt, sie sehen nicht aus wie am Fernsehen. Das ist durchaus im Sinne von Sylvain. In einem seiner Gedichte schreibt er: „Es wird immer ausserordentliche Wesen geben, es wird immer Blumen geben, die Sonne… Aber ich hoffe, es wird nicht immer Fussball am Fernsehen geben.“
In Richtung des Unnennbaren
Ich versuche weiter, zu verstehen: „Sylvain, worum geht es dir bei deinem Kreuzweg? Was möchtest du zeigen?“ Die Kreuzigung, sagt Sylvain, sei nicht das Ziel Jesu gewesen. Es sei für ihn eher ein Theater, eine Farce gewesen. „Wie jeder Todgeweihte hielt er das, was da geschah, nicht für real. Bis zum letzten Moment hoffte er, davonzukommen. Er war ein Mensch wie du und ich.“ Und doch ist Jesus für Sylvain offenbar noch mehr als das.
Ganz zum Schluss unseres Gesprächs, als ich schon meinen Mantel übergeworfen habe, bittet mich Sylvain, noch einen Moment zu bleiben. Er geht hoch ins Atelier, kommt zurück mit einer riesigen Rolle, breitet sie mit langsamen Drehungen aus auf dem Küchentisch.
Ein überdimensioniertes Kruzifix erscheint, bestehend aus unzähligen dieser für Sylvains Bilder so typischen, mit Stangentusche gemalten Kringel. „Es sieht aus wie Kritzeleien“, sagt er, „doch dahinter steckt viel Arbeit, eine Million solcher Kringel sind es, ich habe gearbeitet, viel gearbeitet, einen Monat lang, oft auf den Knien. Merci, mon petit Jesus, danke, mein kleiner Jesus, dass du mir die Energie gegeben hast, das zu schaffen.“
Das Kruzifix wirkt nicht qualvoll, eine bunte Schlange zieht sich durchs Bild, die Paradiesfrüchte sind abgebildet, auch sie bunt. Hier im Gekreuzigten, denke ich, ist die durch Schlange und Früchte symbolisierte Entfremdung, die Ur-Trennung von Gott aufgehoben. Doch das ist nicht Sylvains Sprache. Er sagt: „Es gibt in diesem Bild auch ein humoristisches Element.“
Als humoristisch ist wohl auch der Sachverhalt zu interpretieren, dass der Kreuzweg, den Sylvain gemalt hat, unvollständig ist. Warum? Weil bei einigen der Bilder, gleich alten Palimpsesten, zwei Stationen übereinander gelagert sind. Wäre das dann das angestrebte perfekte Werk, wenn die verborgenen Bilder sichtbar würden? Oder wenn alle verschwänden?
Der renommierte Schweizer Kunsthistoriker und Gründungsdirektor der Collection de l’Art Brut in Lausanne Michel Thévoz (* 1936) hat Silvain in einem handgeschriebenen Brief die folgende Empfehlung gegeben: „Sie müssen diese Erkundung fortsetzen, die Sie von dieser Pseudo-Objektivität befreit, die den Wörtern des Wörterbuchs gehorcht, und noch weiter in Richtung des Unnennbaren gehen!“
Die Vernissage des Kreuzwegs von Sylvain Bouillard findet – im Beisein des Künstlers – am Mittwoch, 22. März, um 19.15 Uhr statt, mit Apero riche. Musikalische Umrahmung durch die Pianistin Assel Abilseitova.
Im Gottesdienst an Karfreitag, 7. April (10 Uhr, mit Abendmahl) wird Bezug genommen auf den Kreuzweg. Finissage im Frühgottesdienst am Ostersonntag, 9. April (6.15 Uhr, mit anschliessendem Brunch).
Besichtigung des Kreuzwegs ausserhalb der Gottesdienstzeiten auf Anfrage (061 811 11 16)
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