Sexuelle Ausbeutung von Kindern in Behindertenheimen
Von: mm/f24.ch
Der Fall eines Sozialtherapeuten, der über drei Jahrzehnte lang mindestens 122 Kinder und Jugendliche in Behindertenheimen sexuell ausgebeutet haben soll, bewegt zur Zeit die Schweiz zu Recht. Auch die Stiftung Kinderschutz Schweiz ist als Fachorganisation bestürzt über das Ausmass der Vergehen.
Als eine auf Prävention ausgerichtete Stiftung, die sich gegen Gewalt an Kindern und für deren Schutz einsetzt, arbeitet die Stiftung Kinderschutz seit fast 30 Jahren dafür, Strukturen, die solche Taten ermöglichen, zu verändern. Die Stiftung wirkt darauf hin, die Öffentlichkeit sowie Bezugspersonen von Kindern zu sensibilisieren, aber auch die Kinder selber zu stärken. Gegenüber Erwachsenen Nein sagen zu können oder den Mut aufzubringen, im schlimmsten Fall über Erlebtes zu sprechen, ist für Kinder nicht einfach. Die Stifung unterstützen sie dabei, nehmen aber niemals ihr Umfeld aus der Verantwortung. Denn der Schutz von Kindern ist Sache der Erwachsenen.
Kinder mit Behinderung sind besonders verletztlich
Kinder sind abhängig von uns Erwachsenen, sie sind darauf angewiesen, ihnen vertrauen zu können. Kinder in Institutionen, seien es Internate, Erziehungsheime oder eben Behindertenheime, sind in dieser Hinsicht besonders verletzlich. Kinder mit Behinderungen, die in einem Heim wohnen, können, wenn überhaupt, nur in einem sehr begrenzten Mass über sich selber bestimmen. Sowohl die Alltags- und Betriebsstruktur wie auch der Grad und die Art ihrer Beeinträchtigung schränken sie in ihrer Selbstbestimmung ein. Da gilt es seitens der Institutionen und Betreuungspersonen besondere Sorgfalt walten zu lassen und die tägliche Gratwanderung, die das Machtgefälle zwischen Betreuenden und Betreuten mit sich bringt, laufend zu reflektieren.
Kinder, die von Erwachsenen sexuell ausgebeutet werden, insbesondere wenn dies - wie meist - im Rahmen eines Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnisses geschieht, können unter äusserst negativen Folgen leiden, bis hin zu schweren Traumatisierungen. Sexuelle Übergriffe zu erkennen ist für Betreuende wie Aussenstehende in der Regel nicht einfach. Kinder, auch solche mit einer Behinderung, gehen mit solchen Erlebnissen unterschiedlich um und zeigen unterschiedliche Anzeichen: schwere körperliche Symptome, Verhaltensänderungen und –störungen können auftreten. Kinder schämen sich in der Regel darüber zu sprechen oder fühlen sich am Vorgefallenen schuldig. Durch die immer noch herrschende Tabuisierung des Themas und strukturelle Hindernisse, die eine restlose Aufklärung solcher Taten oft erschweren, fehlt den Opfern in den meisten Fällen ein Leben lang die Anerkennung ihres Leidens als Folge von sexuellen Übergriffe.
Hinschauen
Symptome, die nach Übergriffen auftreten, sind oft nicht eindeutig zu interpretieren. Nichtsdestotrotz ist es wichtig hinzuschauen und insbesondere auch bei Kindern, die nicht oder ungenügend sprechen können, Signale, die auf einen Übergriff deuten könnten, wahrzunehmen und zu interpretieren. Nur so lässt sich die grosse Dunkelziffer in diesem Bereich erhellen.
Sexuelle Übergriffe hinterlassen Spuren, die sehr oft psychischer Natur sind und entsprechend gedeutet werden wollen. Ein Kind, das wieder einnässt oder verkotet, das sich auffällig introvertiert verhält oder im Gegenteil, neuerdings extrovertiert, sollte Betreuende aufhorchen lassen. Allgemein können Verhaltensänderungen wie aggressives oder sexualisiertes Verhalten, Vermeiden von Nähe oder Rückzug mögliche Signale für einen erfolgten sexuellen Übergriff sein. Dies verlangt vom Personal in Heimen und anderen Betreuenden viel Feingefühl und vor allem Professionalität.
Institutionelle Richtlinien zur Prävention
Nicht von ungefähr haben sich die betroffenen Heime dazu bekannt, dass sie ihre Richtlinien überarbeiten werden, was sehr zu begrüssen ist. Institutionelle Richtlinien und deren Umsetzung garantieren zwar noch nicht, dass gar keine Übergriffe mehr geschehen, sie sind jedoch ein wichtiger Bestandteil der Prävention von sexueller Ausbeutung von Kindern und können zur Verminderung der Anzahl Fälle wesentlich beitragen. Die Prävention basiert dabei auf verschiedenen Pfeilern. Die Aufklärung und Information sowohl des Personals wie auch der Kinder nehmen dabei einen zentralen Platz ein. Desweiteren gehören Abläufe der Früherkennung und –intervention dazu, welche integraler Bestandteil der Betriebskonzepte sind. Für deren Umsetzung braucht das Personal kontinuierliche Schulung, aber auch Unterstützung, z.B. in Form von Supervision. Eine Betriebskultur, welche das Gespräch fördert und in der das Ansprechen von Unsicherheiten normal ist, dient der Prävention ebenfalls.
Wenn sexuelle Ausbeutung von Kindern aufgedeckt wird, dreht sich meist alles um den Täter (selten die Täterin). Dabei gehen die Kinder leicht vergessen. Diese Kinder haben jedoch Anspruch auf fachliche und ihrer Entwicklung angepasste Unterstützung. Sie dürfen mit dem Geschehenen nicht alleine gelassen werden, sondern müssen in ihrem Bewältigungsprozess begleitet werden.
Es mangelt an Risikomanagement
Dass der Täter im vorliegenden Fall so lange unerkannt blieb und unbehelligt die Stelle wechseln konnte, hat der Diskussion um schwarze Listen und Berufsverbote neuen Auftrieb verliehen. Diese scheinen einfache und schnelle Lösungen für ein gravierendes Problem zu bieten, greifen als Einzelmassnahmen jedoch zu kurz.
Die Stiftung Kinderschutz Schweiz unterstützt solche Forderungen - sofern sie Teil eines professionellen Risikomanagements sind. Das Schweizerische Strafgesetz hat die Wiedereingliederung von Strafftätern in die Gesellschaft zum Ziel. Bei schweren Straftaten, wie dies Sexualstraftaten an Kindern sind, fehlt heute ein umfassendes Risikomanagement. Dieses müsste eine sinnvolle, interdisziplinär koordinierte Täterarbeit, deren Ziel unter anderen die Stärkung derer persönlicher Kontrollmechanismen ist, verbinden mit Schutzmassnahmen für potenzielle Opfer und das Umfeld. Eine solche Schutzmassnahme könnte ein Tätigkeitsverbot für verurteilte Sexualstraftäter in allen Bereichen sein, sei es beruflich oder in der Freizeit, in denen sie mit Kindern zu tun hätten.
Forderungen der Stiftung Kinderschutz Schweiz
Um in Zukunft alle Kinder besser vor sexueller Ausbeutung zu schützen und denjenigen, die sich nicht schützen konnten, Recht zu geben, fordert die Stiftung Kinderschutz Schweiz von Institutionen, Kantonen und dem Bund folgende Massnahmen:
- Ein nationales Präventionsgesetz, welches die Prävention vor Gewalt als wichtigen Pfeiler der Gesundheitsförderung versteht.
- Ein professionelles Risikomanagement, das spezifisch auf verschiedene Gruppen von Straftätern ausgerichtet ist, z.B. pädosexuelle Straftäter.
- Sexuelle Aufklärung, die sich auch als Präventionsmassnahme vor sexueller Gewalt versteht und schon im frühen Alter und für alle Kinder zugänglich ist, z.B. flächendeckend in Schulen und öffentlich anerkannten Heimen. Die Aufklärung muss altersgerecht und entsprechend wiederholt stattfinden. Sie muss auf die Stärkung des Selbstbewusstseins der Kinder und Jugendlichen abzielen.
- Information für Eltern und andere Erziehende zur Prävention vor sexueller Gewalt, die nicht auf Angstmacherei zielt, sondern Wissen zur kindlichen Sexualentwicklung vermittelt sowie Unterstützung in der Erziehung.
- Einbezug des Themas in die Berufsausbildung aller Berufe, die mit Kindern zu tun haben.
- institutionelle Richtlinien und deren Umsetzung für die Prävention und den Umgang mit sexueller Gewalt, welche Eingang finden in die Betriebskonzepte (z.B. betreffend Personalrekrutierung, Betriebskultur, Schaffung von Meldestellen, Schulungen, Supervisionen, Verhaltenskodex)
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