Randgruppe gesucht
Von: Elisha
„Kannst du nicht mal wieder so eine Frauengeschichte machen?“, sagte Fred, einer der Redakteure, und liess ein zerknülltes Papier in meinen Korb fallen. „Beim letzten Mal hatte es eine gute Quote, irgendwas gegen Ungerechtigkeit.“ „Stimmt, die Kleine hatte einen guten Riecher bei der Krüppelgeschichte“, pflichtete Kuno ihm bei. Sie lachten beide, und wie immer zuckte ich zusammen bei dem internen Namen meines Textes.
Dabei fand ich die Story wirklich gelungen. Ich hatte Elena in einem Restaurant kennen gelernt, als sie an mir vorbeirollte und mich freundlich fragte: „Suchen Sie die Toiletten?“
Ich war erstaunt, wie offensichtlich meine Orientierungslosigkeit war, aber hoffnungsvoll fragte ich: „Ja, kennen Sie sich hier aus?“
„Folgen Sie mir unauffällig!“, sagte sie und schmunzelte. Dann rollte sie durch das Gewirr von Nischen und Gängen und öffnete mit einem Stupser die Tür zum Waschraum.
Als wir beide fertig waren, wollte ich mich revanchieren und machte mit grosser Geste die nächste Tür auf. „Bitte schön!“, sagte ich theatralisch dazu. Statt auf den Ausgang blickte ich aber in eine weitere Kabine mit einer weissen Porzellanschüssel und stammelte: „Oh, falsche Tür!“ Wir prusteten beide los, der Anfang unserer Freundschaft.
Ich glaube, dass meine Redakteure gar nicht verstanden hatten, worum es mir gegangen war. Die Geschichte war deshalb so gut gewesen, weil ich nicht nur das Leben von Rollstuhlfahrern an bestimmten Situationen schildern konnte, sondern immer auch mich als Normalo mit Berührungsängsten dabei berücksichtigte. Immer diese Unsicherheit, wann eine Hilfe als eine willkommene Unterstützung und wann sie als ein überflüssiger Übergriff verstanden werden konnte. In meinem Artikeln ging es nicht um Behinderte als unterdrückte Minderheit, sondern um einen Austausch auf Augenhöhe. Das hatte anscheinend unseren Lesern und Leserinnen gefallen.
„Klar, mach was über irgendeine Gruppe, die sich ungerecht behandelt fühlt“, mischte sich jetzt auch Jacqueline ein. „Übergewichtige vielleicht?“
„Oh, da müssen wir aufpassen.“ Fred biss in ein ausgepacktes, dick belegtes Brot, so dass Aufschnitt und Remoulade zwischen seinen Fingern hervorquoll. „Auch wenn es die letzte Bastion für Belustigung scheint, über Dicke zu lachen, gibt es jetzt immer mehr Gegenreaktionen. Nicht, dass unser Blatt das Opfer eines Shitstorms (lawinenartiges Auftreten von Kritik) wird.“ Während ich mir ganz bildlich vorstellte, wie unsere Zeitung von einem Sturm aus Exkrementen überhäuft wurde, winkte Jacqueline ab: „Nein, wir wollen ja nicht auf der Shaming-Welle mitreiten, sondern gegen sie ankämpfen.“
„Was ist das?“, fragte Kuno, „ihr immer mit eurem Englisch! Ich komme da nicht mit.“
„Ist ja auch ein neuer Trend“, versuchte ich, meine Kompetenz unter Beweis zu stellen. „Leute oder Gruppen werden öffentlich beschämt, zum Beispiel in sozialen Medien oder in der öffentlichen Berichterstattung. Wie bei Vergewaltigungsopfern, denen eine Mitschuld zugeteilt wird.“ Kuno brummte.
„Und Teile der Gesellschaft finden es anscheinend gerechtfertigt, Leute zu beschämen, nur weil sie zum Beispiel fett sind. Das nennt man Fat Shaming“, fügte Jacqueline hinzu.
„Und der Gegentrend ist es, dagegen anzugehen“, erklärte sie weiter. Der Vorwurf des Shaming ist dann ein Totschlagsargument, damit kann man jeden ins Unrecht stellen.“
„Das heisst, wir zeigen auf, wo eine Gruppe herabgesetzt wird?“, überlegte Fred. „Was nehmen wir denn: Alleinerziehende, Lesben, Kinderlose …?“
„Das ist alles so ausgelutscht!“ Jacqueline schüttelte den Kopf. „Die Themen haben wir doch durch.“
Sie schritt im Raum auf und ab und schien nachzudenken. „Sag mal, Anke, hast du nicht erzählt, dass du bei einem Familienfest deinen schwulen Klavierlehrer als Freund vorgeschoben hast?“ Ich nickte, verstand aber nicht sofort, worauf sie hinaus wollte.
„Ja, ich war es leid, immer wieder gefragt zu werden, wie ich denn meine Wochenenden allein verbringe. Ich wollte das Mitleid meiner Sippe nicht.“ Ehrlicherweise hätte ich zufügen können, dass ich auch Angst hatte vor der Frage nach irgendeinem geheimen Makel. Es musste doch einen Grund geben, warum ich keinen festen Freund hatte.
„Das ist doch perfekt!“ Jacqueline sah mich glücklich an. „Single Shaming, die Benachteiligung von alleinstehenden Frauen!“ Auch Fred strahlte.
„Aber ich lebe doch komfortabel, habe alle Freiheiten meiner Zeit!“, entgegnete ich zaghaft und dachte an das harte Leben von Witwen und alten Jungfrauen in früheren Jahrhunderten. Das war doch nicht vergleichbar.
„Ach, du machst das schon!“ Da waren sich alle sicher. „Irgendein Ungemach wird dir schon einfallen.“
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