Zwischen Skylla und Charybde
Von: Elisha
Kein Wunder, dass sie sich diesen Platz ausgesucht hat! Delia kennt sich aus mit malerischen Orten, weiss, welches Licht ihr schmeichelt, wo ein Foto oder ein Film Aufmerksamkeit erregt. Deshalb steht sie hier, an dieser Klippe in der Abendsonne. Wie immer ist sie umringt von ihren Fans, den Mädchen, die wie sie bekannt werden wollen mit kurzen Clips im eigenen Videokanal, und den Jungs, die sie anschmachten und um ihre Gunst buhlen. Ich habe mich eingereiht mit meinem immerjungen Körper, falle nicht auf.
Gaston ist ihr derzeitiger Favorit, schon seit sechs Wochen, und er will, wie ich weiss, die Gelegenheit nutzen zu einer grossen Geste. Er hat ihr eine Kette gekauft und dazu einen Anhänger geschmiedet, aus verschiedenen Metallen, mit Glassteinen und Emaille verziert. Sein grosser Stolz, und sie soll das Bindeglied werden zwischen Delia und ihm.
Die Kameras stehen bereit, und er reicht sie ihr, will sie ihr um den zierlichen Hals legen als Zeichen ihrer Zweisamkeit. Sie zuckt kurz, versteht die Bedeutung, schwenkt die Kette, und begleitet von einem „Upps …“ entgleitet sie ihren Fingern und fällt in die Fluten unter ihr.
Gaston erbleicht, ein Raunen geht durch das Grüppchen, und Delia hält sich verschreckt die Hand vor den Mund und reisst die Augen auf. So viel hat ihr Schauspielunterricht also schon gebracht. „Das ist aber schade“, haucht sie dahin, „die schöne Kette!“ Alle sehen auf das Wasser, gurgelnd und brausend unterhalb des Felsens.
„Gaston, willst du mir die Kette wiederholen?“, fragt sie und spitzt die Lippen. Die Kameras laufen, Gaston sieht bestürzt in die schaumigen Fluten, überlegt, schüttelt langsam den Kopf.
„Und ihr?“ Jetzt sieht sie in die Runde. „Wagt es einer von euch, mir die Kette zu bringen?“
Wieder ein Raunen und Räuspern, die Gelegenheit, ihre Gunst zu erlangen. Aber unter der Klippe tost es weiter, Gischt spritzt hinauf und regnet in winzigen Tröpfchen auf Delias nackte Arme.
„Keiner traut sich?“ Sie dreht sich um, ein wenig zu theatralisch, sie wirkt wie ein trotziges Kind.
Jetzt ist es an der Zeit, meine Rolle ist vonnöten. Ich öffne meinen Gürtel und ziehe mir die lange Hose aus, und gespannt sehen alle zu. Dann stelle ich mich an den Hang, starre auf das Wasser, warte geduldig, bis die Strudel sich teilen und der schwarze Schlund sichtbar wird. Ich höre noch den Entsetzensschrei der Menge, als ich eintauche und mich hinabziehen lasse.
Wie immer lasse ich es mit mir geschehen. Meine Haut ist umgeben von der eisigen Kälte, vom Druck der Wassermassen, und ich höre nur dumpfes Tosen, bin mir bewusst, dass jeder Schall der Menschen über mir erstorben ist. Ganz allein bin ich hier, ein Körper, der ohne mein Zutun trudelt und sinkt, und ich trinke die Einsamkeit, sauge sie ein.
Dies ist mein Höllenschlund. Denn das tu ich schon seit Jahrhunderten, immer wieder, seit ich die Götter versucht habe. Den ersten Sprung haben sie mir verziehen, der zweite nahm mein Leben, und als anonymer Taucher hat man mich besungen. Seit damals gehe ich immer wieder in die Fluten, an dieser Stelle, und ich weiss nicht, ob das jemals enden wird. Wann immer ich kurz an Land verweile, so weiss ich doch, dass dieses mein Element ist, dass ich hierher gehöre.
Ich greife die Kette, die sich an einem Felsenriff verfangen hat, und ein Strudel wirbelt mich wieder empor. Ich höre die Töne des Erstaunens, als ich ans Ufer klettere, und Delia sieht mich betörend an und schenkt mir funkelnden Wein ein in eines der mitgebrachten Gläser.
„Atme erstmal, und dann trink“, flötet sie mir zu.
Ich aber wende mich an Gaston und drücke ihm die Kette in die Hand. Gern würde ich ihm weise Worte auf den Weg geben, aber leise murmele ich nur: „Einmal ist genug!“
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