Teamentwicklung
Von: Elisha
Leon hatte sich auf die Arbeit mit Erwachsenen gefreut. In seiner Ausbildung hatte er schon viele Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche veranstaltet, und er liebte die kleinen Veränderungen, die bei ihnen sichtbar wurden. Nach einem Kurs mit der Slackline oder drei Tagen mit Bogenschiessen waren die jungen Leute nicht nur jeder für sich gewachsen, so dass sie mehr Zutrauen in sich und ihre Fähigkeiten hatten, sondern sich auch als Team viel besser zusammen schlossen. Bei den Erwachsenen würde das bestimmt potenziert erlebbar werden, und er genoss die gemeinsamen Reflektionsrunden am Lagerfeuer, die die Freizeiten abschlossen und rund machten.
Allerdings waren die Ankommenden nicht so, wie er sich eine ideale Gruppe vorgestellt hatte. Die beiden Frauen beklagten sich über die Zimmer, die aus gutem Grund einfach gehalten waren, um unnötige Ablenkungen zu vermeiden. Nadeschda beschwerte sich über den fehlenden Netzempfang, der in dieser Einsamkeit nicht gegeben war. Eigentlich musste man bis zum Tor am Eingang des Grundstückes, jenseits der grossen Wiese und am Rand des kleinen Wäldchens, wenn man telefonieren oder Nachrichten verschicken wollte.
Amelie war dagegen immer wieder mit ihrem Fläschchen beschäftigt, dessen alkoholisch riechenden Inhalt sie auf beide Handflächen verteilte und gründlich verrieb. Besonders jeder Kontakt mit der Natur, ob beim Steine sammeln oder beim Zusammenstellen von Zweigen in der Vase für den Esssaal, wurde mit einer neuen Schicht des Desinfektionsmittels beantwortet.
Die Männer waren auch nicht motivierter. Schon die allgemeine Regel, während des Kurses auf Kopfbedeckungen in den Räumen zu verzichten, ergab einen Eklat. Während die Jugendlichen auf einen ersten Schock hin ihre Mützen als Zeichen der Höflichkeit beim Zusammentreffen abnahmen, zog sich Francesco die Kappe noch tiefer in die Stirn und erklärte allen, dass er unter keinen Umständen bereit sei, sich auch nur einen Augenblick von ihr zu trennen. Schliesslich sei er lange genug in der Firma, habe Teamleitungen kommen und gehen sehen, und diese Weiterbildung habe er sich nicht selbst ausgesucht, sondern sei einfach überstimmt worden.
Auch Roland, der rundliche Kollege mit der Halbglatze, knurrte missgelaunt. Dies lag an dem Plan, gemeinsam für Frühstück und Abendessen zu sorgen. Er schob sich hastig einen Schokoriegel in den Mund und knipste ein Foto von den ausgehängten Essenszeiten. Der fünfte im Bunde war Samuel, ein junger Mann, der in Leons Augen noch nicht weit in der Hierarchie geschafft hatte und mit wachen Augen alles aufnahm, als sei er zum ersten Mal verreist.
Leon sass längs auf einem gefällten, breiten Holzstamm und genoss die Frühlingssonne auf der Haut. „Da habe ich mir ja ganz schön was eingebrockt mit meinen Wünschen“, murmelte er leise und dachte daran, wie oft er sich vorgestellt hatte, sein Wissen und Können erwachsenen Teams zur Entwicklung zur Verfügung zu stellen.
Nun gut, zumindest musste er in sich selbst die Ruhe finden, damit er gute Arbeit leisten konnte. Er atmete tief ein und aus, und nach ein paar Atemzügen fühlte er sich angenehm geerdet und bereit, seinen Vortrag über Gruppenstärken zu halten. Denn wie die Forschung herausgefunden hatte, waren die leistungsfähigsten Teams diejenigen, die mit personeller Vielfalt punkteten und in die jeder seine eigenen Stärken einbringen konnte. Vielleicht würde das die Teilnehmer ermutigen.
Später zog Leon sich auf seinen Baumstamm zurück, nachdem er die Gruppenaufgabe vor dem Abendessen bekannt gegeben hatte. Es ging darum, die Höhe des Fahnenmastes am Grundstückseingang herauszufinden. Nadeschda nahm begeistert ihr Handy mit, als alle zusammen über die Wiese schlenderten. Aber am Fusse des Pfahls gab es nur ratlose Gesichter.
„Wie sollen wir das nur messen?“, fragte Francesco und zuckte mit den Achseln. „Der mitgebrachte Zollstock reicht nur für zwei Meter.“
„Und wenn jemand hochklettert?“
„Wer denn?“ Alle schauten auf Amelie, doch die winkte ab.
„War da nicht eine Leiter drüben am Waldrand?“ Roland zuckte zusammen, als Francesco ihm anerkennend auf die Schulter klopfte. Sie gingen los und holten eine hölzerne Leiter, die sie zusammen an den Pfahl lehnten.
„Traust du dich jetzt darauf?“, fragte Nadeschda und tippte die Asche von ihrer Zigarette.
„Das hat doch gar keinen Zweck, selbst wenn ihr alle festhaltet.“ Amelie verzog das Gesicht. „Damit reiche ich immer noch nicht an die Spitze.“
„Vielleicht sollte mal unser Praktikant seinen Beitrag leisten“, sagte Francesco im spitzen Ton und sah Samuel herausfordernd an.
„Na ja“, begann dieser mit leiser Stimme. Sein Gesicht färbte sich rot, und er schien zu überlegen. „Ich hätte da eine Idee.
„Hört, hört“, spöttelte Francesco, aber die anderen wiesen ihn mit einem „Psch“ in die Schranken.
Der schmächtige Mann ging zu dem Fahnenmast und wackelte an seinem unteren Ende. Er löste ihn aus seiner Verankerung, stemmte ihn hoch und legte ihn auf den Boden ab. Er hob den Zollstock aus dem Gras auf. „Jetzt können wir ihn einfach messen.“
Und schon legte Samuel ihn an und markierte die Stelle der ersten zwei Meter. Dann schob er den Zollstock weiter am Pfahl entlang. Roland johlte und pfiff dann begeistert, Nadeschda und Amelie klatschten in die Hände. Leon wollte sich gerade hinüberbegeben, um sich das Ergebnis mitteilen zu lassen. Nur Francesco zögerte und hielt Samuel beim Messen an der Schulter fest.
„Toll, wie du uns in die Irre führst“, meinte er langsam. „Jetzt willst du einfach die Länge messen, dabei hatten wir doch eine ganz andere Aufgabe.“ Er kratzte sich am Kopf und liess Samuel dabei los. „Wir sollten doch die Höhe des Pfahls ermitteln.“
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