Ich sitze in einem IC von Zürich nach Basel. Oben im Zug, da hat man die Sicht auf die Dinge. Mein Blick konzentriert sich nach draussen und schweift über die blühenden, gelben Rapsfelder, die starke Kontraste bilden zum jungen Grün der Bäume und den noch braunen Acker. Ich sitze alleine.
Da bemerke ich eine junge Frau, die vor mir steht: «Frei?»,fragt sie und zeigt auf den Platz. Ich nicke freundlich und nehme meine Reisetasche am Fussende weg, damit sie sich an den Fensterplatz setzen kann. Sie setzt sich aber auf den Sitz der Gangseite, überschlägt die Beine und wippt nervös mit ihrem Fuss. Dann nimmt sie ihr Handy aus der Tasche und tippt eine Nummer hinein. Ich höre, dass sie Spanisch spricht.
Verstohlen schaue ich mir mein Fast-Gegenüber an, sie merkt es nicht. Die junge Frau ist unglaublich hübsch, sie hat einen vollen, schön geschwungenen Mund und sanfte, braune Mandelaugen. Mit der freien linken Hand streift sie unaufhörlich durch ihr schwarzes, langes Haar und zieht einzelne Haare heraus, die sie um den Zeigefinger wickelt und dann abstreifend auf den Boden fallen lässt. Noch immer wippt ihr Fuss nervös.
Wir nähern uns Lenzburg. Die ältere Dame auf der anderen Seite steht auf und versucht, mit dem Rücken gegen uns stehend vergeblich, in den Ärmel ihrer Jacke zu gelangen. Mit einer selbstverständlichen Geste hilft ihr die junge Frau, immer noch am Telefon sprechend, in den Ärmel. Die Dame wendet sich verwundert um, da sie gemerkt hat, dass eine helfende Hand am Werk war. Sie bedankt sich aber nicht und geht, auf unsicheren Füssen, den Flur entlang. Die junge Frau schaut ihr besorgt nach, ihre Hand helfend ausgestreckt, um sie zu stützen, falls sie fällt.
Als sie das Telefongespräch beendet, wendet sie sich unvermittelt an mich: «Wann Basel?», fragt sie mich. Ich antworte ihr auf Englisch, das ich es nicht genau wisse. Sie fängt ein Gespräch mit mir an, in Spanisch. Ich erfahre, dass sie zweiundzwanzig Jahre alt ist, aus der Karibik kommt und geschieden ist, ihr italienischer Ex-Ehemann sei gewalttätig gewesen. Sie erzählt aus ihrem Leben, über ihre Gedanken, die sie bewegen, über ihre Sehnsüchte und unerfüllte Träume.
Ich verstehe nur bruchstückweise, was aus ihr heraussprudelt, Fragmente eines jungen, schweren Lebens. Intuitiv merke ich, dass diese junge Frau mir gegenüber sehr traurig ist. Ich versuche ihr Mut zu machen, so gut es geht, da sie nur wenige Brocken Englisch versteht. Ihre Augen werden feucht. Wir kommen in Basel und steigen aus. Sie zeigt auf die Bank auf dem Perron und erklärt, dass sie da warten muss, bis ihre Kollegin sie abholt. «Tu es una chica muy bien y muy linda», sage ich ihr zum Abschied, «Buena suerta!». Du bist ein hübsches und liebes Mädchen, ich wünsche dir viel Glück. Wir umarmen uns und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Dann streift sie sanft über meinen Arm und geht.
Tief berührt von dieser Begegnung gehe ich nach Hause. Ich wollte oben im Zug sitzen, um eine «bessere Sicht der Dinge» zu haben. Statt dessen habe ich eine andere Sicht gewonnen, indem ich das, was unmittelbar vor mir war, wahrnahm und zuliess. Welch ein kostbarer Augenblick.
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