Zeit für den Schlummertrunk
Von: Elisha
Walter hatte schon an ihrem Atem erkannt, dass sie neben ihm eingenickt war. Lange, geräuschvolle Züge. Dann ein kurzer Schnäuzer, ein regloses Liegenbleiben, und mit Schwung warf Ilse ihre Decke zurück , so dass sie doppelt über ihren Beinen landete.
„Ich gehe ins Bett“, kamen die erwarteten Worte, während sie ihre Füsse in die ausgetretenen Pantoffel schob. Dann erhob sie sich langsam von der Chaiselongue und schlurfte an ihm in seinem Ohrensessel vorbei. Sie beugte sich noch einmal zu ihm hinunter, drückte die geschürzten Lippen auf seinen Mund und ging von dannen. Das abendliche Ritual, Ende der gemeinsamen Zeit.
„Ich mache mir noch einen Schlaftrunk“, sagte er wie üblich und wartete, bis sie aus dem Badezimmer kam. Endlich erhob er sich, um in die Küche zu gehen. Er nahm die Milchpackung aus der Kühlschranktür und schüttete sich die weisse Flüssigkeit in seinen Keramikbecher.
Mit etwas zittrigen Händen schob er ihn in die Mikrowelle und wartete auf das Ping. Dann streute er sich Malzextrakt aus einem Schraubglas in die Tasse und rührte mit einem kleinen Löffel um, bis sich alles aufgelöst hatte. Kurz überlegte er, ob er den Trank hier vor Ort zu sich nehmen sollte, aber auf dem Tisch standen schon Tassen und Teller sowie der Brotkorb und das runde Tablett mit den Marmeladen und dem Honigglas. Alles schon bereit für das morgendliche Frühstück.
Also ging er mit dem dampfenden Becher in der Hand zurück in die gute Stube, setzte sich wieder auf seinen Sessel und legte die Beine auf dem mit Samt bezogenen Hocker ab. Schlückchen für Schlückchen genoss er das Malzgetränk. Seine Zeit!
Früher war er traurig gewesen, wenn Ilse ihren Tag für sich beendet hatte, oftmals war das auch überraschend und ohne Vorwarnung gewesen. Und es hatte auch eine Zeit gegeben, in der er mitgegangen war, für sein Empfinden zu früh am Abend, bevor der Tag sich dem Ende zugeneigt hatte. Er war mit ins Bett gekrochen und hatte ihren durch das Alter wieder zierlichen Körper an seinem Leib gefühlt, und sie hatte ihre eisigen Füsse an seinen langen Beinen erwärmt. Ein vertrautes Gefühl, durch Jahrzehnte der Gewöhnung gewachsen.
Manchmal hatte er dann auf mehr gehofft, aber das war die Ausnahme geblieben. Seine Ilse war wirklich kein Abendmensch, und so hatte er sein Verlangen nach lustvoller Bewegung gezügelt und hatte höchstens die inneren Bilder genossen, die Erinnerung oder Fantasie ihm darboten. Er hatte sich dann damit getröstet, dass der nächste Morgen eine frisch ausgeschlafene Frau an seiner Seite aufwecken würde, die ungeduldig darauf wartete, dass er nach seiner Morgentoilette bei ihr seinen Mann stehen würde.
Inzwischen hatten sie sich beide daran gewöhnt, den Tag nicht gemeinsam zu beenden. Was Ilse so früh ins Bett trieb, konnte er nur erahnen. Vielleicht war sie froh, der bleiernen Schwere ihrer entspannten Muskeln nachgeben zu können, ohne auf den Spalt zwischen den beiden Matratzen achten zu müssen. Denn wenn man allein im Bett lag, galt die Einteilung der Seiten nur bedingt. Ein Herausragen von Händen und Füssen wurde da nicht durch unsanftes Verschieben geahndet.
Ihm selbst blieb noch als Abschluss eine Stunde, um den Schlummertrunk zu geniessen, und diese Zeit zu füllen, blieb ganz allein seine Entscheidung. Das konnte mit einem spannenden Film sein, den er mit klopfendem Herzen im Fernseher verfolgte. Oder er schaltete noch Musik ein und liess sich von den ruhigen Klängen in einen Halbschlaf führen, so dass ihm manchmal mit einem erschreckenden Klirren der Löffel aus der entspannten Hand auf den Boden fiel.
Meistens aber nutzte er die Spanne, um den eigenen Gedanken nachzugehen. Bilder aus Kindertagen oder Erlebnisse der Jugendzeit kamen ihm in den Sinn, von Zeit zu Zeit auch Begebenheiten von dem ausklingenden Tag. Meistens aber sass er einfach stumm und beobachtete das Treiben seines Verstandes wie von einem Herbstwind aufgewirbelte Blätter.
In sich ruhend sass er dann da, innerlich ganz gewahr, wie seine Lebenszeit in jedem Augenblick geschah. Und wenn sein Atem zur Ruhe gekommen war und er genug gesessen hatte, dann freute er sich auf das angewärmte Bett und die Nähe seiner schlafenden Frau.
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