Nur ein Nickerchen
Von: Elisha
Lothar gähnt mit weit geöffnetem Mund. Er ist nach seiner Dienstfahrt die ganze Nacht durchgefahren, Kilometer um Kilometer, um den Sonntag mit seiner Familie zu verbringen. Gerade zum Frühstück hat er es geschafft, sitzt jetzt vor seinem Teller mit Rührei und Speck und hört dem Geplapper seines kleinen Sohnes Pierre zu. Oder besser, es rauscht an ihm vorbei, obwohl er immer wieder versucht, Schlüsselwörter aufzunehmen und Teile seiner Geschichten nachzuvollziehen.
Von seinem Freund im Nachbarhaus hat Pierre erzählt, vom Kindergarten, einem Sprung von einer Mauer. Man könnte meinen, Lothar sei seit Urzeiten nicht zu Hause gewesen, dabei war es nur eine Woche. „Ach, an der Strasse“, sagt er wieder pflichtschuldig und nickt, während seine Gedanken abschweifen und er sich noch einen Toast buttert.
„Möchtest du noch Kaffee, oder kannst du dann nicht schlafen?“, fragt seine Frau Gerlinde und hält ihm die Keramikkanne über die Tasse.
„Schütte mir doch noch einen heissen Schluck dazu“, sagt Lothar und sieht ihr ins Gesicht. Wie süss sie lächelt, denkt er, und wieder fühlt sich seine Abwesenheit wie eine Ewigkeit an.
„Ins Bett würde ich schon gern“, sagt er leise, „aber nicht allein.“ Ihre Blicke treffen sich. Ja, auch sie hat daran gedacht.
„Schwierig.“ Sie sehen beide zu ihrem Sohn hinüber, der sich noch ein paar Cornflakes in seine Schale schüttet.
„Gehen wir gleich zum Ententeich?“, fragt Pierre voller Tatendrang, angelt die Flocken mit den Fingern aus seinem Schüsselchen und knabbert daran.
Gerlinde versucht, ihrem Mann zu helfen. „Papa ist müde. Er muss erst einmal ein Nickerchen machen.“
„Heute Nachmittag gehen wir zum Wasser, wenn du mich vorher ausruhen lässt“, sagt Lothar und hat eine Idee. „Du kannst ja solange hier spielen.“
„Darf ich auch auf den Balkon gehen?“
Lothar und Gerlinde tauschen Blicke und nicken. Ja, der Balkon ist kindersicher.
„Wie wäre es denn, wenn du uns erzählst, was du so siehst, und wir legen uns so lange ins Bett?“
Pierre berichtet begeistert aus der Nachbarschaft. Er kennt das Auto von den Wegeners, und zu fünft steigt die Familie umständlich in den Wagen ein. Pierre sieht zu und kommentiert. Im Schlafzimmer zieht Lothar seine Frau ganz nah an sich heran, und sie küssen sich innig.
„Endlich wieder!“, flüstert Lothar und beginnt, ihren Körper zu streicheln. Seine Finger tasten über den Pullover, arbeiten sich vom Rücken nach vorn vor.
„Jetzt sind sie weggefahren“, redet der Junge weiter. „Aber da kommt ein anderes Auto, das kenne ich auch. Von Ricos Vater. Der steigt aus und geht ins Haus.“
Gerade hat Gerlinde leise gestöhnt, erwidert jetzt aber laut: „Ach, der war wohl auch auf Dienstfahrt.“
„Papa, kennst du dich mit Vögeln aus?“ Lothar zuckt zusammen. Seine Finger waren gerade unter die Kleidung geschlüpft, hatten die lang vermisste Haut gespürt.
„Ich glaube, das sind Tauben!“ Pierre hat im Baum gegenüber zwei graue Vögel entdeckt, die sich vorsichtig auf den schwankenden Zweigen niederlassen.
„Ach, und jetzt ist Rico auch auf dem Balkon! Ich winke ihm mal zu“, kräht ihr Sohn fröhlich. „Hallo, Rico!“ Seine Stimme ist nicht nur in der Wohnung vernehmbar. „Rico, hörst du mich?“
Gerlinde stützt sich im Bett auf: „Ich glaube, ich stehe besser mal wieder auf. So jedenfalls klappt das nicht mit uns.“
Lothar nickt bedauernd. „Dann geh mal, bevor die beiden die ganze Nachbarschaft unterhalten.“
Aber schon ertönt die laute Stimme ihres Sohnes: „Na, Rico, sind deine Eltern auch beim Nickerchen?“
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