Im Eifer des Gefechts
Von: Elisha
Es ist kein gewöhnlicher Besuch in der Wohnung meiner Tochter, und so stehe ich einen Augenblick in ihrem Flur, schinde Zeit, sammle mich. Mein Herz pocht schnell und unüberhörbar, mein Körper zeigt mir, dass etwas Bedeutendes geschieht.
Dabei besuche ich Ines jede Woche, bringe Gebäck mit, sitze mit ihr beim Tee. Aber um sie geht es ja nun gerade nicht, sie ist die Mittlerin, wie es mein Wunsch war. Sie hat das Treffen herbeigeführt, ist die Gastgeberin, eine Nebenfigur mit wenig Text.
Schon längst habe ich meinen Mantel an die Garderobe gehängt, und so setze ich meinen Weg fort in das Esszimmer, an dem wir jeden Mittwoch sitzen. Ines steht noch am Fenster, hat ein Fässchen mit Zucker auf den Tisch gestellt, und Renee bedient sich, klaubt mit spitzen Fingern drei der weissen Würfel heraus und versenkt sie in ihrer Tasse. So seh ich ihr Gesicht als erstes von der Seite, fremd geworden durch die Jahre der Trennung, weit entfernt von den vertrauten Erinnerungen.
Es gab eine Zeit, da konnte ich das Alter meiner Töchter herunterrasseln, siebeneinhalb oder drei Jahre fünf Monate … Heute muss ich nachdenken oder manchmal sogar rechnen. Ines‘ Dreissigsten haben wir letztes Jahr gefeiert, also ist Renee zweiunddreissig, denke ich langsam. Sie wendet mir das Gesicht zu, und ein Stich zuckt mir durch den Körper. Das Leben auf der Strasse hat Spuren hinterlassen, obwohl ihre Haare frisch gewaschen und ihre Kleidung eben erst angezogen ist.
Ich versuche ein Lächeln, aber meine Muskeln gehorchen mir nicht. Zu viele Gefühle brechen sich Bahn, und ich habe Angst, dass meine verzerrte Grimasse sie wieder vertreibt. Zu fragil ist der Faden, den Ines zu spinnen versucht hat, als dass er eine Belastung aushalten könnte. Die Vorwürfe von damals prasseln wieder auf mich ein wie spitze Steine, dabei höre ich sie nur in meiner Erinnerung, und ich schüttele den Kopf, um sie los zu werden. Wieder erschrecke ich. Wird sie das als Zurückweisung erleben, Grund genug, das Treffen abzubrechen?
Die Gegenwart ist ganz anders. Renee ist aufgestanden, durchquert den Raum und kommt auf mich zu. Kurz erzittere ich, weil auch das sich mit einer Rückschau zusammen mischt, als sie drohend den Stuhl über meinem Kopf schwang, bevor ich die Polizei gerufen habe. Mein Körper hat Angst um mein Leben, warnt mich, ist wachsam. Aber was ich sehe, passt nicht dazu. Ihr Blick ist nicht feindlich, und sie wirft sich in meine Arme. Unsere Körper prallen zusammen.
„Mein Kind!“, denke ich, und ein Teil von mir will ausrufen: „Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern“, wie der Vater in der Bibel, im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Überschwemmt bin ich von Freude, sie wirklich in Händen zu halten, lebendig, gesund, aus freiem Willen. Gleichzeitig höre ich eine mahnende Stimme, die mir ein „zu oft“ zuraunt. Denn ich kenne diesen Zyklus, ihre überschwängliche Liebe, die keinem realen Alltag standhält, ihre Enttäuschung, den Rückzug und dann den Hass. So halte ich sie nur vorsichtig, bleibe abwartend und ruhig.
Ines hat uns zugesehen, und ihr Blick zeigt mir, dass sie weiss. Sie hat alles wahr genommen, wie immer in unserer Familie, und auch ihr gegenüber fühle ich mich schuldig. Wie so oft, fühle ich nur mein Versagen als Mutter, bin keiner meiner Töchter wirklich gerecht geworden.
Bei Renee waren es die Koliken, die ich dem schreienden Baby nicht abnehmen konnte, obwohl ich es stundenlang durch die Wohnung trug. Diese Mischung aus hilflosem Mitgefühl und sich steigernder Ungeduld führte immer wieder zu Streit mit dem ungeduldigen Vater und Jahre später zur Trennung.
Bei Ines treffen mich die Gewissensbisse nur von Zeit zu Zeit, weil ich denke, dass sie zu viel zu tragen hatte. Während an Renee Aufmerksamkeit und Sorgen hafteten, konnte ich Ines getrost übersehen. Sie war immer „das Kind, das keine Schwierigkeiten machte“, unauffällig in der Schule, beliebt bei ihren Freundinnen.
Jetzt lächelt sie, stellt mir eine Tasse auf den Tisch und packt den Kuchen aus.
„Kommt, setzt euch doch“, sagt sie freundlich, „ich schenke noch mal Tee nach.“
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