Ein magischer Augenblick
Von: Elisha
Susanne hatte gerade die Gläser ausgespült und legte sie in den grossem Topf mit heissem Wasser, um sie abzukochen. In Gedanken teilte sie den gelben Brei aus geliertem Fruchtfleisch in Portionen auf. Fünf, sechs … Die Gläser würden nicht reichen, die Ernte der Mirabellen war einfach zu gut in diesem Jahr. Und dann sah sie ihn, mitten auf dem Küchenboden, pechschwarz mit offenem Maul, in dem die spitzen Zähne zu erkennen waren. Er sass ganz ruhig da, betrachtete sie eher neugierig.
Ein Hund in ihrem Haus? Sie blickte unsicher nach links und rechts, fragte sich, wie er hereingekommen war. War er überhaupt real? Sie erinnerte sich noch an die Begebenheit mit der Katze. Genau an derselben Stelle hatte sie gesessen, urplötzlich, ebenso pechschwarz. Mit ihren gelben Augen hatte sie Susanne von oben bis unten gemustert und dann langsam eine Pfote hochgehoben und ausgiebig geleckt. Das war vor etwa zwei Jahren gewesen, und Susanne war auch gerade mit Einkochen beschäftigt gewesen, zu dem Zeitpunkt mit Apfelkompott.
Es war ihr nicht gut gegangen, und sie hatte jeden menschlichen Kontakt gemieden. Im Dorf war sie verschrien gewesen, weil sie ständig mit Sammeln von Kräutern und Pilzen beschäftigt gewesen war, und ihr winziges Haus, von jeher von der Nachbarschaft sorgsam beäugt, hatte über und über voll gehangen mit Sträussen zum Trocknen. In der kleinen Küchennische waren die Regale überfüllt mit Gläsern und Töpfen verschiedener Ingredienzien gewesen, und auf einem Brett hatten sich braune Fläschchen mit Tinkturen aller Art gereiht. Die Existenz der Lästermäuler in der Nachbarschaft hatte sie nur erahnt, und die schwarze Katze hätte deren Scherz sein können, um das Bild als Hexe abzurunden.
Während die Katze weiterhin auf ihren Küchenfliesen gesessen und sie bloss angestarrt hatte, hatte Susanne sich einen Tee aus Himbeerblättern bereitet und an dem kleinen Holztisch gesessen und über ihr Leben nachgedacht. Und der Plan war geboren worden, den Menschen ihr Wissen weiter zu geben. Zum Glück lebte sie ja in einem Zeitalter, in dem sie dies nicht direkt tun musste, sondern über Medien vermitteln konnte, und so hatte sie die letzten zwei Jahre damit zugebracht, sich durch Blogartikel und kleine, selbstgedrehte Filme auf einer Platform einen Namen als „Kräuterfee“ zu machen. Nachdem sie damals den Entschluss gefasst hatte, hatte sie sich umgedreht, um das seidige, schwarze Fell mit den Fingern zu berühren und ein wenig Futter anzubieten, aber das Tier war verschwunden, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Insgeheim hatte sie sich gefragt, ob die Katze wirklich da gewesen war.
Und jetzt sass da dieser Hund, und sein Blick folgte ihren Bewegungen. Seine Grösse schüchterte sie ein, aber ein Gefühl tief in ihr beruhigte sie, dass sie keine Angst vor einem Angriff haben musste. Also liess sie den Topf mit siedendem Wasser, der als Waffe dienen könnte, aus den Augen und setzte sich wieder an ihren kleinen Holztisch, führte die Keramikschale mit heissem Gebräu an den Mund. War es wieder Zeit, sich Gedanken über ihr Leben zu machen? Ihr ging es besser, Tag für Tag führte sie Buch über die schönen Dinge, die sie erlebte. Nur persönliche Kontakte, ohne den Schutz von zwischengeschalteten Medien, beschränkte sie weiterhin auf das Nötigste, die Bäckerin, die Frau an der Kasse im Lebensmittelgeschäft, den Mann in der Fahrradwerkstatt.
Anders als die Katze, blieb der Hund nicht wie eine Statue sitzen, sondern kam herüber und legte seine Schnauze auf ihr nacktes Knie. Sie streckte die Hand aus und berührte zaghaft die dunklen Härchen, bis sie endlich die ganze Handfläche über seinen Kopf streifen liess. Es war keine Frage, dieser Hund war auf jeden Fall real. Er leckte über ihren Unterarm und begann, vor Aufregung zu bellen.
Susannes Gedanken kreisten. „Ein Hund lief nicht allein. Kein Streuner, wie es eine Katze sein konnte, sondern in Begleitung eines Menschen.“ Sie schaute sich wieder um, sah jetzt, dass die Tür zum Garten offen stand. Dahinter erkannte sie einen Schatten, eine gross gewachsene Person war kurz davor, in ihr Reich einzudringen. Sie schob die Schnauze beiseite und sprang auf, dem Topf mit dem kochenden Wasser entgegen.
Jemand klopfte zaghaft an die geöffnete Tür, der Hund sprang mit wedelndem Schwanz dorthin.
„Ja bitte?“, fragte Susanne, und eine Frau mit Lockenkopf trat ein.
„Ich bin Leserin ihres Kräuterblogs und wollte Sie gern mal kennen lernen“, sagte die Frau schüchtern, „aber draussen habe ich mich gefragt, ob ich Sie so einfach überfallen darf.“ Der Hund sprang jetzt aufgeregt zwischen den beiden Frauen hin und her. „Und dann hat mir Maggi die Entscheidung abgenommen.“
Susanne beugte sich zu dem schwarzen Hund hinunter und streichelte ihn hinter den Ohren.
„Gut gemacht, du Magie!“, flüsterte sie. Dann wandte sie sich an die Frau: „Ich bin zwar gerade beim Einkochen, aber vielleicht mögen Sie ja eine Tasse Tee.“
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