Ein Geschenk zum Muttertag
Von: Elisha
Es tut mir im Herzen weh, wenn ich sehe, mit wie viel Sorgfalt Evelyn arbeitet. Sie hat mit der schweren Schere ein grosses Herz aus Pappe ausgeschnitten und auf den Rand ringsum eine rote Kordel geklebt. Jetzt rollt sie Schnipsel aus buntem Krepppapier vorsichtig zu kleinen Kügelchen, die sie eins nach dem anderen in den Umriss klebt. Sie wird bestimmt noch eine Stunde damit beschäftigt sein, und ich weiss, sie will ihre Sache gut machen. Schliesslich steht Muttertag vor der Tür, und sie will vorbereitet sein.
Eine Träne kullert mir aus dem Auge. Auch wenn ich sie nicht geboren habe, ist sie doch meine Tochter, seit sie als Kleinkind zu uns kam. Mein Mann Robert und ich lieben nicht nach der Genetik, ob seine Tochter und mein Sohn aus früheren Beziehungen oder das Baby, das in unserer Ehe entstanden ist, alle sind doch unsere geliebten Kinder, ganz ohne Unterschied. Wir fühlen uns als Familie und sicher in unserem Heim.
Evelyn kritzelt mit einem Bleistift über das Herz, zieht ein paar noch lose Kügelchen zur Seite, platziert sie neu. In einem Schälchen hat sie blaue Kügelchen vorbereitet. Sie greift danach, ordnet alles nach ihrer Vorstellung.
Aber natürlich gibt es immer noch die anderen Elternteile, die auch Vater und Mutter sind. Mit meinem Ex hat es sich gut eingespielt. Inzwischen haben wir gelernt, Treffen eindeutig abzusprechen. Hilfreich ist dabei die Technik mit Mails und SMS, denn um Missverständnisse zu vermeiden, werden Vereinbarungen immer auch schriftlich verschickt. Zum Nachlesen sozusagen. Seit wir uns darauf eingelassen haben, liegt der Streit hinter uns, und Finn kann seine beiden Väter gut geniessen.
Ganz anders ist es bei Roberts geschiedener Frau Mandy. Obwohl sie die Untreue immer abgestritten hatte, zog ein anderer Mann bei ihr ein, nur ein paar Tage nach der Trennung. Sie hielt auch noch zu ihm, als er begann, handgreiflich zu werden, und Kind und Frau herum zu schubsen. Ihre Mutter schritt ein und schlug Robert vor, das Sorgerecht zu erstreiten, kurz bevor ein Streit im Spital endete. Seitdem lebt Evelyn bei uns.
Sie sitzt am Küchentisch, Kügelchen für Kügelchen nimmt sie weiter in ihre kleine Hand, betupft sie mit Klebstoff und drückt sie auf das grosse Herz. Ein Muttertagsgeschenk, das wirklich wertgeschätzt werden sollte. Und schon rollt die nächste Träne aus meinem Auge, weil ich mir vorstellen kann, wie achtlos Mandy es entgegen nehmen wird, für den Fall, dass sie diesmal wirklich kommt.
So gern ich meiner Tochter den Weg ebnen möchte, all die Liebe zu erfahren, die ihr gut tut, so sehe ich doch die nahende Enttäuschung vor mir. Und diese Hilflosigkeit ist das Entsetzliche für alle Eltern, dass wir unsere Kinder nicht schützen können durch Verletzungen in der Welt.
Ich stelle mich hinter sie, lege meine Hand auf ihre Schulter und betrachte ihr Werk. Aus dem bunten Wirrwarr der Kügelchen zeichnet sich ein dunkelblauer Schriftzug ab: MAMA.
„Wie schön du das gemacht hast“, sage ich und versuche, meine Stimme nicht zittern zu lassen. „Es sieht aus wie ein Mosaik.“
Sie dreht sich unter meiner Hand, strahlt mich an.
„Ich wusste, dass dir das gefällt“, sagt sie zufrieden und summt vor sich hin. Und während ich ihr weiter zusehe, wir beide vertieft in das sich füllende Herz, sagt sie plötzlich: „Und ich weiss auch schon, wo wir das aufhängen können.“ Bevor ich eine Frage formulieren kann, fügt sie hinzu: „In deinem Arbeitszimmer, Mama.“
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