Ich hatte noch Karls Ton im Ohr, der mir bei unseren Treffen immer wieder Geschichten von der Strasse erzählte. Schon vor dem Sommer letzten Jahres hatte er mich auf die übersehenen Wohnungslosen aufmerksam gemacht, so dass ich bei Stadtbesuchen immer kleine Flaschen mit Mineralwasser bei mir trug, um sie in der Hitze zu verschenken. Im letzten Winter hatte ich warme Socken, Handschuhe und Schals gespendet, die Karl unermüdlich mit einem Einkaufstrolley unter die Leute brachte. Denn er kannte die Ladeneingänge, die nach Geschäftsschluss noch genügend Wärme boten, um sich die halbe Nacht dort aufzuhalten oder die Stellen unter den Brücken, an denen die wenigen Habseligkeiten verwahrt werden konnten. Er hatte Zugang zu den Menschen ohne eigenes Zuhause und brachte ihnen nicht nur Dinge, sondern hörte ihnen zu und stand ihnen bei.
„Martina, du glaubst gar nicht, wie viele es rund um Basel gibt“, hatte er geseufzt. „Zu den hundert Menschen, die draussen ‚Platte machen‘, kommen nochmal hundert, die ihre Wohnung verloren haben und nur bei Bekannten übernachten.“ „Aber warum nutzen sie nicht die Notunterkünfte? Dazu sind sie doch da!“ „Viele Gründe!“ Er hatte erneut geseufzt, und mir war wieder eingefallen, dass es nicht die Obdachlosen als homogene Masse gab. „Scham. Angst vor Abschiebung. Fehlende Registrierung im Kanton. Angst. Vor Menschen allgemein, Angst, beklaut zu werden …“ Ich hatte genickt und mich elend gefühlt, denn auch ich kannte einen Platz, an dem sie sich tagsüber in Gruppen trafen. Ihr rauer Ton untereinander machte mir manchmal Angst, und ich ging nicht gern an ihnen vorbei.
Trotzdem war ich jetzt auf dem Weg dorthin, in meinem Rucksack eine Jacke, die ich abgeben wollte. Gestern hatte ich es schon vorgehabt, aber der feine Niesel, der sich überall auf Bäumen und Häusern versprüht hatte, hatte auch den Platz leer gefegt. „Wo sind denn die Obdachlosen, wenn es regnet?“, hatte ich Karl heute gefragt. Er hatte mit den Schultern gezuckt. „Am liebsten da, wo es warm und trocken ist wie im Bahnhof oder in Einkaufszentren.“
Heute war die Sonne wieder einmal hervorgekrochen, und der Himmel schimmerte blau durch vereinzelte, weisse Wölkchen. Fast wie ein letzter Sommertag, wäre da nicht die schneidende Kälte des Windes. Der alte Mann und die junge Frau mit dem Kinderwagen, die mir entgegen kamen, hatten gefütterte Jacken an, und die Mutter trug Ohrenschützer aus Plüsch. Ich selbst hatte mir einen Schal um den Hals gewickelt und sah mich um.
Ein junger Mensch mit kurzgeschorenen Haaren, der Mann oder Frau sein konnte, kam mir entgegen, in Bermudas und einem kurzärmeligen Hemd, und ohne nachzudenken sagte ich: „Ist das heute nicht etwas zu kalt dafür?“ Ich erwartete ein rotziges „Nö!“ oder „Geht dich gar nichts an, du Schlampe!“ „Da haben Sie recht!“, sagte eine Mädchenstimme, und die Person verlangsamte ihren Schritt. „Irgendwie habe ich mich vertan.“ „Ich könnte Ihnen mit einer Jacke aushelfen“, sagte ich und blieb stehen. „Wirklich?“ Ich nahm meinen Rucksack ab und kramte die Jacke hervor. „Eigentlich wollte ich sie zu den Obdachlosen bringen, aber Sie brauchen sie gerade nötiger, glaube ich.“ Die junge Frau nickte und zog sich eilig die Jacke über die frierenden Arme. „Sie können sie ja später an sie weitergeben. Oder was immer sie machen wollen.“ Ich deutete auf das Verkaufsschildchen am Ärmel. „Danke. Sie haben mir wirklich geholfen.“ Beschwingt ging ich weiter. Es lag wohl nur an der Jahreszeit, dass ich leise vor mich hin sang: „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind… ♫♫“
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