Geteiltes Leid
Von: Elisha
Ich war gespannt auf das Treffen. Wir hatten erst telefonieren wollen, doch dann hatten wir uns gleich im Eiscafé verabredet. Ein Foto hatten wir ausgetauscht, das ich jetzt auf meinem Handy vor mir liegen hatte. Damit konnte ich sie erkennen. Ihre Haare hatten genau das Aschblond, mit dem ich, durch meinen Vater, von Natur aus ausgestattet war. Seit Jahren mischte ich aber verschiedene Strähnchen darunter, um einen schönen Goldton zu erhalten.
Ich bestellte mir ein Milchshake und sah sie kommen. Mit Päckchen und Tüten beladen zwängte sie sich durch die eng stehenden Tische und Stühle hindurch.»
„Hallo Sandra!“ Ihre Stimme klang hell und freundlich. Keine Ähnlichkeit mit meiner rauen Tonlage.
„Hallo Lara! Du hast wohl eingekauft?“
„Na ja, ich dachte, wenn ich schon mal rauskomme …“ Sie lachte verlegen, stapelte ihren Ballast auf dem freien Stuhl neben ihrem.
„Ich habe gerade bestellt. Willst du auch was?“ Die Bedienung drehte sich bei meinen Worten um und sah sie fragend an.
„Ja, einen Amarenabecher bitte.“
„Ohne in die Karte zu gucken?“
„Ach, den haben doch alle.“
Ich betrachtete sie neugierig und suchte Ähnlichkeiten. Natürlich war sie deutlich jünger. Schliesslich hatte mein Vater uns verlassen, als ich fünfzehn Jahre alt war und dann eine neue Familie gegründet. Ich lächelte gequält und war froh, dass unsere Bestellungen serviert wurden.
„Schon seltsam“, meinte Lara zwischen zwei Löffeln Sahne, „dass wir uns jetzt erst kennen lernen …“
„Besser spät als nie!“ Ich saugte an meinem Strohhalm, schmeckte die Maracuja-Mischung auf meiner Zunge.
„Bestimmt waren wir die bösen aus eurer Sichtweise.“
„Da kannst du von ausgehen!“ Die hämischen Bemerkungen meiner Mutter klangen mir im Ohr. „Meine Mama fühlte sich durch ein jüngeres Modell ersetzt.“ Wieder weilte mein Blick auf meiner Halbschwester. Nicht nur die Haarfarbe, auch die ovale Gesichtsform und die schmalen Lippen hatten wir gemeinsam.
„Na ja, das ist wohl seine Masche!“
„Heisst das, er wohnt nicht mehr bei euch?“
„Nein, seit sieben Jahren nicht mehr. Hat eine neue Frau und einen kleinen Sohn.“
Wir schwiegen. Es gab so viel, was ich wissen wollte, so viel zu erzählen. Lara war mir sympathisch, und anscheinend hatte sie dasselbe durchgemacht wie ich, mit der Trennung der Eltern mitten in der Pubertät, dem Vater, der plötzlich nicht mehr da war … Es dröhnte mir in den Ohren, ein lautes Rauschen, durch das ich kaum ihre Worte verstehen konnte. „Eiscafé“ kam darin vor, „Spaziergang“ und „im Sonnenschein“. Sie plapperte fröhlich weiter.
„Du machst einen glücklichen Eindruck!“ Ich forschte in ihrem Gesicht nach gegenteiligen Anzeichen: einem falschen Lächeln, bangen Blicken, einer Unstimmigkeit.
Stattdessen wieder ihr silberhelles Lachen. „Ich glaube, ich habe es gut hinter mich gebracht.“ Sie stopfte sich weiter Sahne und Eis in den Mund.
Ich stöhnte, und ein wenig Milchshake floss mir aus dem Mundwinkel. Eilig tupfte ich es mir mit der Serviette ab. Mir war klar, dass ich eine Frage stellen musste, doch ich hatte keine Ahnung, wie. Ich wusste nur, ich könnte sie nicht gehen lassen, ohne gefragt zu haben. In meinem Kopf steigerte sich das Tosen in einen übermächtigen Tumult, und ich sah, wie sich für mich stumm ihre Lippen bewegten.
„Ich habe dich nicht verstanden“, sagte ich schlicht und wartete darauf, dass der Radau in meinem Kopf abebbte. Stattdessen begann mein Herz zu rasen.
„Sandra, ist dir nicht gut?“ Meine Halbschwester fühlte meinen Puls am Handgelenk, streichelte mir über die Wange.
„Geht gleich wieder.“
Geduldig wartete sie, bis ich mich wieder beruhigt hatte und wir sogar noch ein kleines Eis bestellen konnten. Ich hoffte auf ihre Ermunterung, einen Satz wie „Hast du was auf dem Herzen?“ Stattdessen nahm sie meine Hand in ihre und gab zu: „Eins muss ich noch von dir wissen!“
Dabei sah sie mir direkt in die Augen und fragte gedehnt: „Hat … er … dich … auch …?“ Sie musste den Satz gar nicht vervollständigen. Ich fiel ihr um den Hals und begann laut zu schluchzen.
„Dich hat er auch angefasst?“, sprudelte ich hervor. „Und ich dachte all die Jahre, dass es an mir lag; er hat mir die Schuld gegeben.“
„Du warst doch ein Kind, er der Erwachsene“, sagte sie leise. „Das zu bedenken, habe ich in der Therapie gelernt, aber es hat gedauert, bis ich es wirklich geglaubt habe.“
Jetzt weinten wir beide, hielten uns noch eine ganze Weile fest.
Als wir unser zweites Eis lutschten, fragte sie vorsichtig: „Bist du jetzt erleichtert, dass er mich auch missbraucht hat?“
„Es klingt blöd, aber ja, das bin ich. Sonst hätte ich gedacht, dass etwas an mir nicht in Ordnung ist.“
„Er ist das Arschloch, nicht wir.“ Sie verzog das Gesicht zu einer finsteren Miene, bevor sie allmählich wieder lächelte. „Aber wie gut, dass wir uns endlich kennen gelernt haben! Ich glaube, wir können uns noch richtig gut tun.“
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