Von Station zu Station
Von: Elisha
Als Jana in die Wohnküche kam, fiel ihr wieder ein, was sie in der letzten Vollversammlung ihrer Wohngemeinschaft beschlossen hatten. Der schwere Tisch war zur Seite gezogen worden, und das kleine Trampolin stand vor dem Kühlschrank. Daneben sah sie den kniehohen Hantelbaum, der anscheinend die zweite Station bildete. Eine Matte lag daneben, und im Flur schien der Zirkel weiter zu gehen: Fabienne hatte schon den tragbaren Stepper hingestellt und war gerade dabei, das Sitzfahrrad aufzubauen.
„Wollen wir das wirklich heute angehen?“, fragte Jana unmotiviert.
„Na klar! Das haben wir doch so beschlossen.“ Fabiennes Stimme klang nicht so hell und beschwingt wie sonst, aber Jana dachte sich nichts dabei. Noch immer wunderte sie sich, wie Fabienne es geschafft hatte, die Sportmuffel zu einem Zirkeltraining in der gemeinsamen Wohnung zu überreden.
„Und die Jungs? Sind die überhaupt da heute?“ Ein Hoffnungsschimmer breitete sich aus.
„Ja, die kommen gleich. Das Seminar in der Uni ist seit fünf Minuten beendet.“
Jana sah auf die Reihe der rosa- und lilafarbenen Hanteln mit den kleinen Gewichten. „Bringt Jenne seine Superhantel mit den Metallscheiben auch mit, oder soll er mit deinen bunten Hanteln trainieren?“
„Mir egal, geht ja um Ausdauer. Du wirst schon merken, wie selbst die Winzdinger mit fünfhundert Gramm schwer werden, wenn du zwei Minuten durcharbeitest.“
„Zwei Minuten? Ich dachte, wir fangen mit sechzig Sekunden an!“ Das mulmige Gefühl in Jana wurde stärker.
„Na ja, es soll doch was bringen.“ Jana konnte sich gut vorstellen, wie die Folgen sein würden. Immer wenn sie sich bisher auf eine von Fabiennes Aktionen eingelassen hatte, hatte sie es mit schmerzhaftem Muskelkater bezahlt.
„Sag mal, gehst du gar nicht an dein Handy?“, versuchte sie, ihre Mitbewohnerin abzulenken. Im Sekundentakt meldete es mit einem Ton eingehende Nachrichten. Fabienne murrte, als Jana es vom Küchentisch nahm und ihr reichte. „Willst du gar nicht wissen, was da los ist?“
„Das weiss ich.“ Fabiennes Gesicht glich einer steinernen Maske, völlig untypisch für sie. Jetzt war es nicht mehr zu übersehen, und Jana setzte an: „Erzähl mal, was ist los?“
„Hach, ich habe einen Fehler gemacht und mich hinreissen lassen.“
Jana suchte nach einer Sitzgelegenheit, aber die Stühle standen zusammengeklappt in der Ecke. Also nahm sie Fabiennes Hand und liess sich mit ihr auf der Matte nieder. „Worum geht es?“
„Kennst du Samuel Koch?“ Jana erinnerte sich.
„Das ist doch dieser junge deutsche Stuntman, der bei der Sendung Wetten dass? verunglückt ist? Schon Jahre her!“
„Genau der.“ An Fabiennes Nasenwurzel erschien eine Kerbe. „Er ist ja seitdem querschnittsgelähmt, und jemand macht ein Feature über sein Leben heutzutage, wie er mit der Einschränkung klarkommt.“
Jana dachte an den jungen Mann, über den damals viel berichtet worden war. Sie hatte ihn sympathisch gefunden, und seine Familie war ihr aussergewöhnlich vorgekommen. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung es gehen würde. „Und …?“, fragte sie bewusst neutral.
„Hach, ich habe mich geärgert!“ Fabiennes Kerbe wurde tiefer, und sie blickte hinüber zu ihrem Handy, auf dem immer noch weitere Nachrichten eingingen. „Ich habe gesagt, dass er doch selbst schuld ist und Profit macht durch seine Bekanntheit, und dass ich davon einen dicken Hals kriege!“ Wie zur Betonung fasste sie mit der Hand an ihren Kehlkopf. „Und dann sind alle über mich hergefallen, haben mich herzlos genannt und mir Probleme unterstellt.“
Jana tippte auf den Bildschirm und las ein paar der Kommentare: „Du alte Schnepfe, musst du noch auf ihm herumhacken?“, war der erste, den sie entzifferte, dann „Du hast doch wohl den Schuss nicht gehört! Der arme Kerl ist vom Halse ab gelähmt, und du gönnst ihm keine Sendung?“, gefolgt von: „Sowas Missgünstiges! Hast du kein Herz?“
„Das ist ja schlimm!“ Jana tätschelte Fabiennes Hand, und jetzt sammelten sich Tränen in ihren Augen. Ihre Stimme verlor die Schärfe, als sie weitersprach: „Ich wollte nur an all die anderen erinnern, die namenlos mit ihrem Schicksal klar kommen müssen.“ Die Tränen traten über ihre Unterlider und machten ihre Wangen feucht. Jana legte den Arm um sie, und sie kuschelte sich in ihre Ellbeuge.
„Sag mal, ist das was Persönliches, oder kannst du ihn nur nicht leiden? Mit seiner Schuld meinst du doch die Tatsache, dass er mit dem gefährlichen Stunt an der Sendung teilgenommen hat, oder?“ Sie bemühte sich, bloss keinen vorwurfsvollen Ton anzuschlagen.
„Na ja, er hatte eine Wahl!“ Demonstrativ legte Fabienne eine Pause ein für den Gedanken: „Andere haben das nicht!“
„Wer?“ Jana sah ihr in die Augen, spürte ihren Schmerz. „Wer hatte keine Wahl?“
„Mein Bruder!“ Die Antwort ging fast in Fabiennes Schluchzen unter. „Er ist beim Jogging von einem Wagen angefahren worden, und es war nicht sein Fehler.“
Als es ein paar Minuten später an der Wohnungstür klingelte, war die Stimmung wie ausgewechselt. Jana hatte den Bauchtrainer aus ihrem Zimmer geholt, und nachdem sie die Tür öffnete, rief sie in den Hausflur: „Los, Jungs, jetzt mal schnell die Treppen rauf! Unser Training geht los!“
Fabienne hatte ihren Post überarbeitet, und seitdem gingen keine Angriffe mehr ein. „Eine schöne Idee“, schrieb jemand über den beabsichtigten Film, „das wird bestimmt den ganzen Namenlosen Mut machen, sich ihrem Schicksal zu stellen!“
Fabienne las es vor, und ihre Stimme klang wieder hell und fröhlich wie immer. Dann legte sie das Handy beiseite und begrüsste die ankommenden Mitbewohner: „So, wie abgemacht: Jetzt machen wir Sport!“
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