Neue Qualitätsnormen – Aufbruch oder Status quo?
Von: Renate Hodel
Für das Gemüse gelten seit dem 1. Juni 2023 neue Qualitätsnormen. Damit will die Branche unter anderem Food Waste entgegenwirken und für die Gemüseproduzentinnen und Gemüseproduzenten soll sich die Situation beim Handel gerade bei extremen Wetterereignissen entschärfen. Die Sensibilisierung der Konsumentinnen und Konsumenten dürfte aber zum Knackpunkt werden.
Laut einem UNO-Bericht sind Food Loss (Lebensmittelverlust) und Food Waste (Lebensmittelverschwendung) die drittgrösste Quelle von Treibhausgasemissionen. Und auch in der Schweiz trägt die Lebensmittelverschwendung erheblich zum ökologischen Fussabdruck bei. So ist die Umweltbelastung durch vermeidbare Lebensmittelabfälle laut Bundesamt für Umwelt etwa halb so gross, wie die des gesamten motorisierten Individualverkehrs in der Schweiz.
Die Schweiz hat sich im Rahmen des vom Bundesrat verabschiedeten Aktionsplans gegen Lebensmittelverschwendung darum das ambitionierte Ziel gesetzt, bis 2030 die vermeidbaren Lebensmittelabfälle zu halbieren und dazu vom Anbau über die Produktion bis zum Verkauf und letztlich dem Konsum möglichst alle Akteure zu verpflichten.
Erste Anpassung seit fast 10 Jahren
In der Schweizer Landwirtschaft entstehen vermeidbare Abfälle meistens, weil die Ernte nicht den strengen Handelsvorschriften entspricht und deshalb keine Abnehmer findet oder auch aufgrund von saisonaler Überproduktion bei Lebensmitteln wie Salat, dessen Wachstum und Konsum zudem stark vom Wetter abhängig ist.
Bei den Handelsvorschriften wird im Rahmen des Aktionsplans nun angesetzt: Zum ersten Mal seit 2014 wurden die Qualitätsnormen für Gemüse in mehrmonatiger Arbeit bei 65 Produkten umfassend überarbeitet. Damit leiste die Branche einen wichtigen Beitrag zur Reduktion von Food Waste und reagiere gleichzeitig auf erschwerte anbautechnische Bedingungen durch den Wegfall verschiedener Pflanzenschutzmittel und die Zunahme von Wetterextremen, heisst es vom Verband der Schweizer Gemüseproduzenten (VSGP).
So soll mit den neuen Qualitätsnormen unter anderem die Toleranz gegenüber leichten Schönheitsmakeln beim Gemüse steigen und damit mehr Ware im Handel landen und so auch weniger Gemüse zwischen Acker und Handel «verloren» gehen.
Produktion in grossem Spannungsfeld
Bei den Gemüseproduzentinnen und Gemüseproduzenten werden die neuen Qualitätsnormen begrüsst und sind durchaus auch an gewissen Hoffnungen geknüpft. «Die Normen liessen bis anhin nur ausnahmslos einwandfreies Gemüse zu, was in den letzten Jahren zu mehr Ausfall bei uns auf den Feldern und so zu Foodwaste führte», sagt Christoph Wyssa, Gemüseproduzent in Galmiz am Murtensee.
Den Produzentinnen und Produzenten sei bewusst, dass sie nicht faule oder total verfressene Produkte verkaufen könnten. In den letzten Jahren habe es aber immer wieder Fälle gegeben, in denen Ware wegen ein paar Blattläusen oder ein bisschen Lochfrass zurückgewiesen worden sei und dort würden die Qualitätsnormen nun ansetzen. «Gemüse, das vielleicht nicht mehr hundertprozentig schön aussieht, kann trotzdem noch verkauft und auch ohne Bedenken noch gegessen werden», ergänzt Christoph Wyssa.
Die Gemüseproduktion bewege sich sowieso in einem enormen Spannungsfeld: Es werde möglichst ökologisch und umweltschonend produziertes Gemüse in Topqualität verlangt, während immer mehr Wirkstoffe für den Schutz der Pflanzen wegfallen würden. So plädiert auch Betriebsleiter Samuel Müller vom Bio-Gemüsebetrieb Müller im zürcherischen Steinmaur bezüglich Detailhandel für mehr Toleranz bezüglich der optischen Normen.
Schon ein kleiner Befall mit Thripsen, rund ein Millimeter kleinen Schädlingen, habe bis anhin dazu führen können, dass Lauch nicht mehr geliefert werden konnte. «Er wäre zwar qualitativ einwandfrei, entspricht aber optisch nicht den Normen», erklärt Samuel Müller. «Es muss eine gesunde Toleranz her, damit Landwirtinnen und Landwirte nicht gezwungen sind, zu Pflanzenschutzmitteln zu greifen.»
Mit neuen Normen zu nachhaltigerer Produktion
Auch bei den Beratungs- und Anlaufstellen für Gemüsebau der landwirtschaftlichen Kompetenzzentren in den Kantonen verspricht man sich einiges von den neuen Qualitätsnormen. «Es hat viele sehr wichtige und längst überfällige Anpassungen gegeben», sagt Philipp Trautzl, Gemüsebau-Berater am Arenenberg im Kanton Thurgau.
Vor dem Hintergrund der sich stark veränderten Rahmenbedingungen im Pflanzenschutz, sowie verstärkter klimatischer Extreme seien diese Anpassungen auch dringend notwendig. «Denn es ist heute bereits, und in Zukunft umso mehr, nicht mehr möglich die hohen Anforderungen zu erfüllen», ergänzt er.
Zum einen würden die dafür notwendigen Pflanzenschutzmittel nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen, zum anderen stehe der enorme Ressourceneinsatz nicht im Verhältnis zum Output. Ein weiterer Punkt sei, dass die bisherigen hohen Anforderungen durch den starken Preisdruck am Markt nicht mehr abgegolten wurden.
«Ich denke, dass bei den Qualitätsnormen ein grosser Hebel liegt, um Lebensmittelverluste zu reduzieren – und zwar der weitaus grössere Hebel als bei kleineren Foodwaste-Projekten», ist auch Daniela Hodel, Leiterin der Fachstelle Gemüsebau am landwirtschaftlichen Beratungszentrum Grangeneuve des Kantons Freiburg überzeugt und ergänzt, dass letztere aber sicher auch für die Sensibilisierung sehr wichtig seien. «Tatsächlich könnte ein grösserer Anteil der Kulturen verkauft werden, was mehr Erntegut pro Fläche bedeuten würde», meint die Agronomin weiter.
Im Prinzip würde so Fläche frei, die anders genutzt werden könnte – beispielswiese für die Erhöhung des Selbstversorgungsgrads oder mehr Flächen für die Biodiversitätsförderung. «Ausserdem würden weniger Betriebsmittel wie Diesel, Dünger, Pflanzenschutzmittel, Saat- und Pflanzgut sowie Traktoren- und Arbeitsstunden verschwendet, wenn mehr der geernteten Ware auch tatsächlich im Verkauf landet», ergänzt sie. Somit sollte sich dies längerfristig auch finanziell bei den Betrieben abzeichnen und insgesamt zu einer nachhaltigeren Produktion führen.
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