Die Eidgenossen und der Rütlischwur
Von: mm/f24.ch
Um 1200 begannen die Walser, deutschsprachige Bewohner des Oberwallis, weitere Siedlungsgebiete zu erschliessen: über den Furkapass gelangten sie ins Urserental (UR), von dort über den Oberalppass ins Vorderrheintal (GR), wo sie sich neben den romanisch sprechenden Rätern in einzelnen Tälern festsetzten. Andere Walsergruppen überquerten den Simplon- und den Nufenenpass, gründeten im Tessin vereinzelte Siedlungen (Bosco/Gurin), während der Hauptharst via Bellinzona und den Splügenpass von Süden her abgelegene Bündnertäler wie das Avers besiedelten (die von Norden her erst im 20. Jahrhundert mit Tunnels und Brücken erschlossen wurden).
In anderen fast unbewohnten Hochtälern (am Rheinwaldhorn, rund um Obersaxen, im Safiental, Valsertal, in Langwies, Davos und im oberen Prättigau) errichteten Walser - gefördert von rätischen Adelshäusern, denen sie Abgaben entrichteten - viele Einzelhöfe.
Die Walser behielten aber die deutsche Sprache bei und bedungen sich das Recht aus, ihre Verwaltung unter einem aus ihren Reihen gewählten Ammann [=Amts-Mann: in der Schweiz bis heute gebräuchliche alamannische Bezeichnung für Präsidenten einer regionalen Behörde: Gemeindeammann, Stadtammann, Landammann] selbst auszuüben. Das rätoromanische Sprachgebiet (im wesentlichen der Kanton Graubünden) wurde dadurch zerschnitten.
Die Erschliessung des Gotthardpasses
Der Gotthardpass war zwar schon in der Römerzeit bekannt, der Zugang durch die Schöllenenschlucht zwischen Göschenen UR und Andermatt UR jedoch kaum begehbar. Die Walser erfanden eine Technik, hölzerne Stege an senkrechten oder gar überhängenden Felswänden aufzuhängen. Im Oberwallis gibt es heute noch Bewässerungsleitungen in dieser Art.
So wurde nun um den senkrecht zum Fluss abfallenden Kirchberg herum eine 60 m lange Holzbrücke erstellt, teils an Haken in die Felswand gehängt, teils auf Balken gelegt, die den Fluss quer überspannten. Damit war der Grund gelegt für die Entwicklung des Gotthardpasses zum wichtigsten Übergang in den Schweizer Alpen.
Die heute noch bestehende steinerne Teufelsbrücke war der Legende nach nur mit Teufels Hilfe zu bewerkstelligen. Sie ersetzt wohl eine ältere, einfachere Konstruktion.
1237 wurde der Ausbau des Saumweges im Tessin zwischen den Gemeinden in der Leventina und den Städten Como und Mailand vertraglich geregelt und die Gebühren für die Dienstleistungen der Säumer (Maultierhalter) festgelegt. 1239 errichteten die Habsburger eine Zollstelle in Reiden LU, um ebenfalls zu profitieren.
Reichsfreiheit für Uri und Schwyz
Bis zu ihrem Aussterben 1218 waren die süddeutschen Herzöge von Zähringen von den deutschen Königen mit der Verwaltung weiter Teile der heutigen Schweiz beauftragt, danach wurden die Vogteirechte über die Zentralschweiz zunächst den aufstrebenden Habsburgern (Stammsitz: Habsburg bei Brugg AG) verpfändet.
Die Zähringer hatten auch viele Städte gegründet. Nach dem Aussterben des Geschlechtes wurden Zürich, Bern, Solothurn und Schaffhausen reichsfreie Städte. Die zähringischen Stammlande erbten die Grafen von Kyburg (bei Winterthur), die damit zur mächtigsten Adelsfamilie im Gebiet der Nordschweiz wurden.
Uri hatte durch die Eröffnung der Gotthardroute massiv an Bedeutung für das Deutsche Reich mit seinen norditalienischen Teilen gewonnen. So befürchteten die Urner ebenso wie der deutsche König, dass die ständig um die Vermehrung ihres Besitzes bestrebten Habsburger Uri zu einem Untertanenland machen würden. Es lag deshalb im beiderseitigen Interesse, dass König Friedrich II 1231 die Urner aus der Verpfändung an die Habsburger loskaufte und ihnen in einem Freiheitsbrief die Reichsunmittelbarkeit [direkte Unterstellung unter den König unter Umgehung der Grafen] zusicherte.
1240 brach ein Konflikt zwischen dem Papst und König Friedrich II aus, in dem Graf Rudolf III von Habsburg sich auf die Seite des Papstes stellte. Friedrich gewährte den Schwyzern die Reichsunmittelbarkeit und erhielt daraufhin mitten im Winter über den Gotthardpass militärische Unterstützung durch die Schwyzer.
Schon 1264 starb auch der letzte männliche Kyburger. Graf Rudolf IV. von Habsburg und Graf Peter II. von Savoyen [Gebiet südlich des Genfersees im heutigen Frankreich, kontrollierte damals auch die heutigen Kantone Genf und Waadt] stritten sich um das Erbe. Graf Rudolf IV. von Habsburg trat 1264 das Erbe seines kinderlosen Onkels Graf Hartmann IV. von Kyburg an (in etwa Kantone ZH, TG sowie Gasterland am oberen Zürichsee). Die Grundherrschaft über die Stadt Luzern wurde im April 1291 vom stark verschuldeten Kloster Murbach an König Rudolf von Habsburg verkauft.
Die Grafen von Habsburg strebten nach dem deutschen Königsthron, dazu mussten sie jedoch eine starke Hausmacht hinter sich haben. 1257 hatten sich die deutschen Kurfürsten nicht auf einen König einigen können. Nach dem Tod des einen Königs Richard von Cornwall 1272, blieb sein Gegenkönig Alfons X. der Weise machtlos. So entschieden sich die Kurfürsten 1273, einen neuen König zu wählen.
Rudolf v. Habsburg nutzte dies und forderte eine Neuordnung der Lehen, die seit 1245 ohne Zustimmung der Kurfürsten vergeben worden waren. Dies betraf vor allem seinen Rivalen Ottokar II. von Böhmen mit den Herzogtümern Steiermark und Österreich. Die Rivalität wurde in der Schlacht auf dem Marchfeld (Niederösterreich) entschieden, Rudolf wurde Herzog von Österreich und deutscher König.
Bundesbrief und Rütlischwur
Als Geburstermin der Schweiz gilt allgemein der 1. August 1291 (Todesjahr des ersten deutschen Königs aus dem Haus der Habsburger, Rudolf von Habsburg). Die Alte Eidgenossenschaft entstand als loses Bündnis von drei Talschaften am Vierwaldstättersee in der Zentralschweiz: Uri (am oberen, südlichen Seeende gelegen), Schwyz (am nordöstlichen Seeufer) und Unterwalden (am westlichen Seeufer).
Man lehnte sich gegen die Vögte der Grafen von Habsburg (Stammsitz: Habsburg im Kanton Aargau) auf. Ziel war nicht eine Loslösung vom Deutschen Reich, sondern die Rückgewinnung bzw. Verlängerung alter Autonomierechte.
Der Bundesbrief von 1291
Der Bundesbrief von 1291 ist ein lateinisch abgefasstes, kurzes Dokument, das von Form und Inhalt her eine grosse Ähnlichkeit mit vielen anderen Dokumenten aus dem spätmittelalterlichen Europa aufweist. Ursprünglich sollte damit wohl ein so genannter Landfriede besiegelt werden.
Der Zweck des Bundesbriefs dürfte einerseits die Wahrung einer minimalen Rechtsordnung und Rechtssicherheit in Zeiten schwacher Zentralgewalt gewesen sein, andererseits dürften lokale Führungsschichten nicht abgeneigt gewesen sein, eben diese Situation auszunutzen, um die eigene Stellung zu festigen (gegen die im Bundesbrief erwähnten fremden Richter).
Die Datierung des Bundesbriefes auf das Jahr 1291 hält auch neusten Untersuchungen mit der C14-Methode stand: Das verwendete Pergament stammt tatsächlich aus dem späten 13. Jahrhundert.
Der Bundesbrief von 1291 lag lange vergessen in Schwyz im alten Archivturm, und auch nach seiner Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert wurde ihm zunächst keine allzu grosse Beachtung geschenkt. Erst die Bildung von Nationalstaaten rund um die Schweiz herum um 1860 - 1880 und der Zeitgeist des wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert (mit seiner Vorliebe für das mittels Experimenten oder wenigstens alten Urkunden Beweisbare) holte den Bundesbrief aus seinem Dornröschenschlaf.
Im Zuge der Geistigen Landesverteidigung vor dem Zweiten Weltkrieg errichtete man in Schwyz ein eigenes Bundesbriefmuseum. Der Bundesbrief wurde damals in einer alleinstehenden Vitrine in einem kirchenähnlichen Raum wie eine Heilige Schrift ausgestellt. Dies und viele weitere Indizien deuten darauf hin, dass es sich bei der Geistigen Landesverteidigung um eine so genannte Zivilreligion gehandelt haben dürfte.
Der Rütlischwur
Bis etwa 1890 hielt man allerdings nach einer alten Überlieferung den Rütlischwur für das eigentliche grundlegende Bündnis der Alten Eidgenossen und datierte ihn auf 1307, ebenso wie den in einer bekannten Sage überlieferten Apfelschuss des Freiheitshelden Wilhelm Tell und den Tyrannenmord am Landvogt Gessler.
Der Rütli-Schwur im Drama Wilhelm Tell von Friedrich Schiller
Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren
eher den Tod als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Die älteste Quelle zum Rütlischwur
Der Rütlischwur soll auf der Rütliwiese am Abhang des Seelisberges am linken Ufer des Vierwaldstättersees stattgefunden haben. Die älteste schriftliche Quelle für dieses Ereignis ist das Weisse Buch zu Sarnen des Landschreibers Hans Schriber von Obwalden. Dieser sammelte um 1470 Urkunden und Sagen zum Ursprung der Alten Eidgenossenschaft.
Im Weissen Buch zu Sarnen heisst es: «... und kamen also ihrer drei zusammen, der Stoupacher zu Schwyz, und einer der Fürsten zu Uri und der aus Melche von Unterwalden, und klagte ein jeglicher dem anderen seine Not und seinen Kummer, ... Und als die drei einander geschworen hatten, da suchten sie und fanden einen nid dem Wald, ... und schwuren einander Treu und Wahrheit, und ihr Leben und ihr Gut zu wagen und sich der Herren zu erwehren. Und wenn sie etwas tun und vornehmen wollten, so fuhren sie für den Mythen Stein hin nachts an ein End, heisst im Rütli ...» (Hans Schriber, Weisses Buch zu Sarnen, um 1470, zitiert nach Chronik der Schweiz)
Interessanterweise taucht hier wohl zum ersten Mal der Begriff Treu und Wahrheit bzw. Treu und Glauben auf, der - wiederum im Zusammenhang mit der Geistigen Landesverteidigung - eine zentrale Rolle im Friedensabkommens in der Schweizer Metallindustrie 1937 (Begründung der Sozialpartnerschaft) spielte.
Die Namen der drei Eidgenossen vom Rütli
Die Namen der drei Eidgenossen, die am Rütlischwur beteiligt sind, meint man seit Friedrich von Schillers Drama Wilhelm Tell genau zu kennen: Werner Stauffacher aus Schwyz, Walter Fürst aus dem Kanton Uri und Arnold von Melchtal - und dies, obwohl die älteste Quelle der Rütli-Sage die Vornamen nicht nennt!
Das Rütli, schon seit langem ein beliebtes Schulreiseziel, wird seit dem 700 - Jahr - Jubiläum der Schweiz 1991 mit dem "Weg der Schweiz" erschlossen. Die Bundesfeier am 1. August wurde erst 1891 als offizieller Nationalfeiertag eingeführt.
Der Datumsstreit: 1291 oder 1307?
Erst als um 1890 in Bern die Idee aufkam, das 700-Jahr-Jubiläum der Stadt Bern und das 600-Jahr-Jubiläum des Bundesbriefs gemeinsam zu feiern, brach eine grosse Diskussion über den "echten" Ursprung der Alten Eidgenossenschaft zwischen den Zentralschweizer Urkantonen und den städtischen Industriezentren aus.
Im Bewusstsein der breiten Bevölkerung durchgesetzt hat sich (dank unermüdlicher Arbeit der entsprechend ausgebildeten Lehrerschaft) letztlich diejenige Variante, die wohl am wenigsten mit der historischen Wahrheit übereinstimmt: Bundesbrief, Rütlischwur und die Taten von Wilhelm Tell wurden in einen unmittelbaren und direkten Zusammenhang gestellt und dafür das Datum des 1. August 1291 festgelegt.
Wenn allerdings an der alten Überlieferung tatsächlich noch mehr dran sein sollte, als phantasievolle Ausschmückungen, dann müsste wenn schon auch das dazu überlieferte Datum 1307 korrekter sein, als die "Einheitsdatierung" auf 1291.
Die Zusammenlegung entspringt vermutlich dem Bedürfnis der Patrioten des 19. Jahrhunderts nach einer griffigen, klaren Ursprungsgeschichte für einen Staat, der inmitten von Nationalstaaten (die grosse politische Mode im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts!) keine Einheit der Sprache, Kultur, Herkunft usw. vorzuweisen hatte, um seine Existenz zu rechtfertigen.
So folgte man also nach längeren Auseinandersetzungen dem Trend der Zeit zur oberflächlichen "Wissenschaftsgläubigkeit" und gab der Jahreszahl 1291 des schriftlichen Dokumentes zu ihrem 600. Jahrestag den Vorrang, nicht ohne alsogleich - völlig unwissenschaftlich - Bundesbrief und Rütlischwur mitsamt der Tell-Legende zu einem in sich geschlossenen Komplex zu verweben.
Der schweizerische Nationalheld Wilhelm Tell
Allerdings errichteten noch 1895 die Urner in ihrem Hauptort Altdorf das Telldenkmal und verewigten darauf trotzig die nach ihrer Auffassung "richtige" Jahreszahl 1307. Ob und wann der legendäre Schweizer Freiheitsheld Wilhelm Tell gelebt hat und wie die Geschichte mit dem Vogt Gessler tatsächlich abgelaufen ist, scheint aus heutiger Sicht nicht so wichtig zu sein. Tells Bild findet sich jedenfalls nach wie vor auf der Rückseite des Fünffranken-Stücks und wird mit Vorliebe für politische Propaganda und allerlei Karrikaturen herangezogen, sein angebliches Wohnhaus wird in Bürglen UR gezeigt und das Telldenkmal steht unverrückbar im Urner Hauptort Altdorf.
Vielleicht lohnt sich immerhin die Lektüre des Dramas Wilhelm Tell des deutschen Dichters Friedrich von Schiller (Uraufführung 1804 im Weimarer Hoftheater, wird heute u.a. jährlich in Interlaken aufgeführt), ein Blick auf dessen Entstehung und Wirkungsgeschichte oder zumindest ein virtueller Besuch im Tellmuseum Bürglen.
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