EKM fordert besseren Schutz für Kinder in der Nothilfe
Von: mm/f24.ch
Die Lebensumstände in der Nothilfe im Asylbereich gefährden das Wohlergehen und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies ist weder mit der Schweizer Bundesverfassung noch mit internationalen Übereinkommen vereinbar. Das zeigen zwei neue Publikationen der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM). Für die EKM ist klar: «Es braucht Massnahmen auf allen politischen Ebenen. Die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen müssen respektiert werden – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Um das Wohl und die Rechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu wahren, muss die Nothilfe im Asylbereich reformiert werden.»
In der Schweiz leben rund 700 Kinder und Jugendliche in Nothilfestrukturen - mehr als die Hälfte von ihnen bereits länger als ein Jahr, viele seit mehr als vier Jahren.
Für die Studie «Kinder und Jugendliche in der Nothilfe im Asylbereich: Systematische Untersuchung der Situation in der Schweiz» wurden im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission EKM vom Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) in einer unabhängigen Studie erstmals in der ganzen Schweiz Daten zu den Lebensbedingungen von Minderjährigen erhoben, die in Nothilfestrukturen leben.
Trotz teilweise beträchtlicher Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen zeigt sich nun ein eindeutiger Befund: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Gesundheit, Entwicklung und ihrem Wohl gefährdet.
Nothilfestrukturen belasten die psychische Gesundheit massiv
Besonders besorgniserregend ist gemäss der neuen Studie der schlechte psychische Zustand der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Insbesondere in den Kollektivunterkünften sind sie traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt, darunter Gewalt, Suizide und gewaltsame Ausschaffungen. Sie wohnen teilweise in abgelegenen kollektiven Rückkehreinrichtungen, mit der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer und ohne Rückzugsmöglichkeiten.
Häufig werden sie separat beschult, was soziale Kontakte zusätzlich erschwert. Isolation, Perspektivenlosigkeit und Ohnmacht schaden ihrer psychosozialen Entwicklung und ihrer psychischen Gesundheit.
Studie: Anpassungen der Lebensbedingungen sind dringend nötig
Laut der Studie des Maire Meierhofer Instituts für das Kind (MMI) besteht aufgrund der negativen Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen ein dringender Handlungsbedarf. Für einen verbesserten Schutz der Kinder in der Nothilfe rät sie zu zahlreichen und substantiellen Änderungen:
- Langzeitbezüge (mehr als ein Jahr) von Nothilfe durch Kinder und Jugendliche vermeiden
- Bei einem Langzeitbezug die Lebensbedingungen zusätzlich verbessern
- Soziale Teilhabe sicherstellen
- Familiengerechte Unterkünfte mit Rückzugs- und Lernmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zuweisen
- Gezielte Förderung ermöglichen
- Unterstimulation bei Kindern im Vorschulalter verhindern
- Zugang zur Volksschule und zur Berufsbildung verbessern
- Zugang zu medizinischen Behandlungen erleichtern
- Psychologische Betreuungsangebote bereitstellen
- Psychologische Unterstützungsprogramme entwickeln
- Freizeitbeschäftigungen zugänglich machen
- Klare Zuständigkeiten und Abläufe für den Umgang mit Gefährdungen definieren
- Einheitliche und verbindliche Standards definieren und deren Einhaltung regelmässig überprüfen
Rechtsgutachten zur Studie: Juristischer Paradigmenwechsel ist angezeigt
Die Rechtsfakultät der Universität Neuenburg hat im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission EKM das Rechtsgutachten «Das Nothilferegime und die Rechte des Kindes. Rechtsgutachten und Studie zur Vereinbarkeit mit der schweizerischen Bundesverfassung und der Kinderrechtskonvention» verfasst. Es ordnet die Ergebnisse und Empfehlungen der Studie des Marie Meierhofer Instituts juristisch ein und stellt fest:
Die Lebensbedingungen der betroffenen Kinder sind nicht mit der Schweizerischen Bundesverfassung und der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar. Die körperliche, geistige und soziale Entwicklung sowie die Gesundheit dieser Kinder werden zu wenig geschützt.
Zur Wahrung der Grundrechte von Kindern und Jugendlichen braucht es zudem eine stärkere Berücksichtigung ihrer altersspezifischen Bedürfnisse. Kinder brauchen mehr als das, was für das blosse biologische Überleben nötig ist - so die Zugänge zur sozialen Teilhabe und zur Erholung, aber auch zu Freizeitbeschäftigungen. Für ihr Wohl ist es ausserdem zentral, einen «normalen» Alltag führen zu können.
Um die Kinderrechte zu wahren, braucht es laut Gutachten einen juristischen Paradigmenwechsel: Die Behörden müssen das Wohl und die Interessen des Kindes bei allen Entscheidungen im Migrationsbereich ins Zentrum stellen.
EKM: Gesetze anpassen und Spielräume nutzen
Das Schweizer Nothilferegime wurde mit der Absicht errichtet, negative Asylentscheide durchzusetzen und die Betroffenen zur Ausreise zu bewegen. Für die Eidgenössische Migrationskommission EKM ist aufgrund der Ergebnisse der beiden Untersuchungen aber klar:
Die Lebensumstände der Kinder und Jugendlichen in der Nothilfe sind damit nicht zu rechtfertigen. Denn ob die Eltern ausreisen müssen oder nicht: Die Schweiz ist verpflichtet, die Rechte aller Kinder und Jugendlichen zu schützen, die innerhalb ihrer territorialen Grenzen leben.
Aus Sicht der EKM stehen die politischen Akteure und die Behörden in der Pflicht, die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche in der Nothilfe substantiell zu verbessern. Sie sieht den Bund in der Verantwortung, sicherzustellen, dass im Rahmen der Nothilfe übergeordnetes Recht eingehalten wird und das Asylgesetz so angepasst wird, dass die Kinderrechte gewahrt werden.
Die Kantone und Gemeinden, die für die konkrete Ausgestaltung der Nothilfe zuständig sind, sollen aus Sicht der EKM für eine deutliche und konkrete Verbesserung der Lebensumstände besorgt sein. Laut EKM zeigen die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen, dass Spielräume vorhanden und wirksame Schritte schon heute möglich sind: Das gilt insbesondere für die kindgerechte Unterbringung, den Schutz der Gesundheit und der kindlichen Entwicklung sowie für die soziale Integration.
Kinderrechte gelten unabhängig vom Aufenthaltsstatus
«An psychischen Problemen, Perspektivlosigkeit und verhinderter Integration leiden nicht nur die Kinder, durch die Folgekosten trägt auch die Gesellschaft schwer daran», sagt Bettina Looser, Geschäftsführerin der EKM. Darum seien kindgerechte Integrationsmassnahmen vonnöten: «Es gilt, im Interesse der Kinder und der Gesellschaft insgesamt, die Bildungs-, Arbeits-, Integrations- und Rückkehrfähigkeit der Heranwachsenden zu erhalten.»
Die beiden Studien zeigten es sehr deutlich, so Bettina Looser: «Die Rechte von Kindern und Jugendlichen müssen respektiert werden - unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.»
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