Der Cosplayer
Von: Pfr. Andreas Fische
Auf dem Tisch zwischen Antoine Straumann und mir Andreas Fischer, ref. Pfarrer von Kaiseraugst liegen Zeichnungen von Comicfiguren mit Mundschutz. Wie’s ihm gehe in Coronazeiten, frage ich Antoine Straumann. Der 16-Jährige war bei mir Konfirmand, im Frühling waren wir dabei, die Konfirmation vorzubereiten, die kurz vor Ostern hätte stattfinden sollen. Sie wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, seit dem Lockdown haben wir uns nicht mehr gesehen.
Antoines Comicfiguren trugen schon lange vor der Corona-Krise Schutzmasken (Fotos: zVg)
Es gehe ihm gut, sagt er, er gehe selten aus dem Haus, noch seltener als sonst. Antoine schaut fern, spielt Videogames, vor allem aber zeichnet er und erstellt Computeranimationen. Sind die Mundschutzfiguren seine Form der Verarbeitung der Coronakrise? „Nein, die sind älter“, antwortet Antoine, „sie stammen vom letzten Sommer.“ Warum dann der Mundschutz? „Meine Figuren benötigen keinen Mund“, sagt er, „ich rede selber nicht gern.“
Eigentlich wäre er gern Maskenbildner geworden. Das war sein Traumberuf, von klein auf. Doch dafür hätte er zunächst eine Coiffeurlehre absolvieren müssen, und das geht halt einfach nicht ohne eine gewisse Redseligkeit. Nun wird Antoine, nach dem Schulabschluss in ein paar Wochen, den einjährigen Vorkurs an der Schule für Gestaltung in Olten besuchen. Dort erarbeitet man sich Grundlagen in manuellem und digitalem Design, entwickelt kritisch-kreatives Denken, bringt den eigenen Stil zur Entfaltung.
Um den eigenen Stil ist es Antoine schon immer gegangen. Immer schon hatte er einen starken Willen. Die Mutter erzählt, er habe schon als Säugling signalisiert, welchen Schoppen er wolle und welchen nicht.
Als er eines Tages beschloss, sich die Haare blau zu färben, reagierte die Familie entsetzt. „Die Klassenkameraden werden dich auslachen, du wirst gemobbt werden“, prophezeite man ihm. Stattdessen setzte Antoine einen Trend, auch andere fingen an, sich die Haare zu färben. Warum er das gemacht hat? „Blau ist meine Lieblingsfarbe“, sagt Antoine lakonisch, „einen tieferen Grund gibt es eigentlich nicht“. Was die anderen dazu denken, ist ihm egal. So bietet er kaum Angriffsfläche für Spott.
Stille, Stäbchen, Zen
Sein älterer Bruder absolviert eine Lehre als Fachmann Gesundheit im Kaiseraugster Alterszentrum. Es geht ihm dort blendend, er wird mit seiner empathischen Art sehr geschätzt – und er kann von morgens bis abends plaudern, ohne Antoine zu nerven. Der nämlich mag Stille. Er hat ein Flair für japanische Kultur, trinkt Tee, isst bevorzugt mit Stäbchen, lernt, tatsächlich, japanisch. Ob er sich mit Zen-Buddhismus befasst? „Ich schaue mir das an, lerne davon, aber übernehme es nicht für mich“, lautet die Antwort.
Antoine übernimmt insgesamt nicht viel, die Inspiration kommt von innen. Sein Traumberuf wäre, für Star Wars Kostüme und Masken zu entwerfen, visuelle Effekte zu entwickeln. Schon als kleiner Bub bewegte er sich im Star Wars-Kosmos. Dass da jede noch so bedeutungslose Nebenfigur ihre eigene, austarierte Geschichte hat, findet er spannend. Seine Lieblingsfigur ist Han Solo, Schmuggler, Pilot, später General der Rebellen. Was ihn an ihm fasziniert? Dass er ein Raumschiff hat, nicht das beste, aber sein eigenes. Und dass er es trotz aller Schwierigkeiten schafft, immer wieder auf die Beine zu kommen.
Auf die Frage, ob die Figur etwas mit seinem eigenen Leben zu tun habe, antwortet Antoine zunächst erstaunt: „Eigentlich nicht“, dann, nach längerem Nachdenken, fügt er hinzu: „Vielleicht doch, in dem Sinn, dass auch ich meine eigene Linie fahre“.
DAS WARS
Zu dieser eigenen Linie gehört paradoxerweise das Switchen zwischen Parallelwelten, das virtuose Spiel mit Virtualität. Eines Morgens rumpelte es in seinem Zimmer. Dann kam er heraus, mit einer Wunde unter dem Auge, er blutete. Die Mutter schrie auf, Antoine prustete vor Lachen. Es war Kunstblut.
Auf seiner Einladung zur Konfirmation steht: „DAS WARS“. Naja, mit dem Konfunterricht, denkt der zerknirschte Pfarrer zunächst, vermutlich auch mit der Kirche. Erst bei näherem Hinsehen sieht er, dass sich die Aussage auf die „Kindheit“ bezieht. Und erst, als er nachfragt, erfährt er, dass die Schrift von Star Wars stammt. Nun gehen auch dem Pfarrer die Augen auf: „Das WARS“ bezieht sich auf „Star WARS“. Hinten auf der Einladung steht der berühmte Star Wars-Slogan: „Möge die Macht mit uns sein“.
Hat das, was Antoine interessiert, auch etwas mit Religion zu tun? Auch da geht es ja um Parallelwelten, die nicht greifbar sind und sich doch irgendwie auswirken. Am nächsten an Gottesdienste komme das Cosplay heran, gibt Antoine zur Antwort. Cosplay ist ein sogenanntes Kofferwort – ein Wort, in das zwei Bedeutungen verpackt sind, nämlich „costume“ und „play“. „Cosplay“ ist also, wörtlich übersetzt, ein „Kostümspiel“.
Beim Cosplay identifiziert sich ein Mensch – ein Cosplayer – soweit wie irgend möglich mit einer virtuellen Figur wie eben Han Solo, trägt ihr Kleid, imitiert ihr Verhalten.
Dem entspräche – transferiere ich den Gedanken in meine eigene Parallelwelt - im christlichen Kosmos die Nachfolge: „Christförmig“ zu werden. Sich in Christus, in Gott zu verwandeln. Antoine zuckt mit den Schultern.
Zum Schluss zeigt er mir eine Collage. Darin sind aus Löchern, die er während einer Schulstunde aus Langeweile ins Papier gestochen hatte, Gesichter entstanden, Sinnloses wird durchsichtig für Sinn, die leere Fläche wird transparent für ein Gesicht.
Andreas Fischer, reformierter Pfarrer in Kaiseraugst
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