Die Kehrseite der modernen Lebensweise
Von: Sibylle Augsburger
Das Immunsystem eines Menschen wird in früher Kindheit geformt. Wie das geschieht, hat Konsequenzen für das ganze Leben eines Menschen. Ein Forscherteam aus Zürich und Lausanne hat jetzt neue Erkenntnisse vorgestellt.
Wir leben heute in einer ganz anderen Welt als unsere Vorfahren vor nicht einmal hundert Jahren. Prägte früher die Landwirtschaft Kultur und Gesellschaft, so sind es heute Städte, Verkehrsachsen und ausgeräumte Landstriche. Wir leben zugleich gesundheits- und hygienebewusster als unsere Vorfahren, die durchschnittliche Lebenserwartung steigt weiterhin an.
Die Kehrseite dieser Entwicklungen: Die Kinder kommen seltener mit Mikroben in Kontakt, und ihr Immunsystem wird weniger effektiv zur Abwehr von Erregern trainiert. Die Folge – vermuten Wissenschaftler schon seit längerem – sind eine Zunahme von Allergien, von chronisch-entzündlichen Leiden, selbst von psychischen Erkrankungen wie Depressionen.
Diese Hypothese wird nun durch die Ergebnisse einer Studie gestützt, die Forscherinnen und Forscher der Universitäten Zürich und Lausanne verfasst haben und die kürzlich im Fachjournal 'BMC Medicine' veröffentlicht wurde.
Nach 1954 Geborene sind empfindlicher
In die Untersuchung flossen Daten von knapp 5‘000 Personen aus der Stadt Lausanne ein, die ungefähr zwischen 1930 und 1965 zur Welt kamen und seit Beginn der 2000er Jahre mehrfach nach ihrem Gesundheitszustand befragt worden waren.
Für die Studie wurden die Personen in zwei Gruppen unterteilt: die vor 1954 und die nach 1954 geborenen. Dabei zeigte sich: die Personen aus der älteren Gruppe verfügten häufiger als die Personen der jüngeren Gruppe über eine neutrales bzw. ein sehr widerstandsfähiges Immunsystem. In der jüngeren Gruppe dagegen waren die Personen übervertreten, die an allergischen Erkrankungen litten.
„Das stützt die schon lange gehegte Vermutung, dass die zunehmende Hygiene neben allen Vorteilen, die sie mit sich bringt, auch allergische und weitere Erkrankungen begünstigt“, sagt PD Dr. Vladeta Ajdacic-Gross, Wissenschaftler an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Zürich und Erstautor der Studie.
Auswirkungen im Erwachsenenalter
Damit aber nicht genug: Die Studienergebnisse lassen den Schluss zu, dass die verstärkte Hygiene nicht nur die Allergieanfälligkeit in der Kindheit erhöht, sondern auch die Gesundheit im Erwachsenenalter beeinflusst.
So kommt es bei den später geborenen Jahrgängen im Erwachsenenalter häufiger zu chronischen Entzündungskrankheiten und auch psychiatrischen Beschwerden, wie die beteiligten Wissenschaftler schreiben. Die Ergebnisse lassen darauf schliessen, dass das Immunsystem wie eine Schaltstelle zwischen körperlichen und seelischen Prozessen funktioniert.
Dazu sagt Vladeta Ajdacic-Gross: „Dass physische und psychische Phänomene zusammenspielen, wissen wir aus unserer eigenen Erfahrung: So erhöht Stress die Anfälligkeit für Infekte, und umgekehrt haben manche Infekte wie beispielsweise Grippe typische Depressionssymptome wie Müdigkeit und Lustlosigkeit zur Folge. Wie sich solche Wechselwirkungen bei den Allergien gestalten, gilt es als Nächstes besser zu verstehen.“
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