Künstliche Intelligenz wird künftig von Gesellschaft und Politik gestaltet
Von: Hendrik Baumann
Die neue Zukunftsstudie von Bertelsmann Stiftung und „Münchner Kreis“ geht der Frage nach, wie Künstliche Intelligenz (KI) in den kommenden Jahren die Bereiche Leben, Arbeit und Bildung verändern wird. Mehr als 500 ExpertInnen aus Wirtschaft und Wissenschaft gaben dafür ihre Einschätzungen ab. Die Corona-Pandemie dürfte den Prognosen zufolge die Verbreitung von KI-Technologien weiter beschleunigen.
Der gesellschaftliche und politische Einfluss auf die Entwicklung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz wird in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren wachsen. Zu dieser Einschätzung kommt die neue Zukunftsstudie „Leben, Arbeit, Bildung 2035+“, die die Bertelsmann Stiftung und der „Münchner Kreis“ in Zusammenarbeit mit weiteren Projektpartnern veröffentlicht haben.
Die Studie geht der Frage nach, wie sich KI-Technologien mittelfristig auf den beruflichen und sozialen Alltag auswirken, und welche Handlungsfelder sich daraus für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ergeben. Als Grundlage dienen die Einschätzungen von mehr als 500 nationalen und internationalen ExpertInnen aus Wirtschaft und Wissenschaft, die im Zuge eines mehrstufigen Prozesses befragt worden sind.
Ihren Prognosen zufolge werden sich die Kräfteverhältnisse auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz verschieben. Während die meisten Befragten (31 Prozent) der Auffassung sind, dass derzeit noch die Wirtschaft den KI-Diskurs dominiert, erwarten sie, dass in Zukunft die Gesellschaft (34 Prozent) sowie die Politik (20 Prozent) die grösste Gestaltungskraft ausüben werden. Die Wirtschaft sehen künftig nur noch 15 Prozent als den prägendsten Akteur.
Grosse Einigkeit herrscht in der Frage, welche gesellschaftlichen Bereiche bis zum Jahr 2035 am stärksten von KI-Technologie beeinflusst werden: Mobilität, Arbeit, Gesundheit, Pflege und Medien. „Digitale Technologien kommen in immer grösserem Tempo in noch mehr Lebensbereichen zum Einsatz. Daher ist es umso wichtiger, dass wir in eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Konsequenzen einer intensiveren KI-Nutzung einsteigen.
Unternehmen wie staatliche Institutionen sind beispielsweise gefordert, Fragen von Führung und Arbeitsmodellen neu zu denken und ihre Prozesse so zu verändern, dass KI sowohl für die Organisation als auch die Beschäftigten einen Mehrwert bringt“, sagt Ole Wintermann, Projektmanager und Arbeitsexperte bei der Bertelsmann Stiftung.
Prognose: KI hat mehr positive Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft
Insgesamt gehen die Befragten davon aus, dass ein verstärkter Einsatz von KI-Anwendungen mit mehr positiven als negativen Folgen sowohl für Unternehmen als auch für das Gemeinwesen verbunden sein wird. Das gilt etwa für die Verbrechensbekämpfung, die Erschliessung neuer Beschäftigungsfelder sowie die wachsenden Möglichkeiten für Ausbildung und lebenslanges Lernen. Ebenso rechnen sie mit wachsenden Chancen für kreatives Arbeiten und die individuelle Weiterentwicklung menschlicher Stärken.
Um die Potenziale von Künstlicher Intelligenz im Sinne möglichst vieler Menschen sinnvoll zu nutzen, braucht es nach Meinung der Befragten vor allem neue Bildungsinhalte sowie passende Lern- und Lehrmethoden. Die KI-Technologien werden der Mehrheit zufolge zu einem Bedeutungsanstieg des bestehenden Bildungssystems führen, nicht jedoch zu dessen Auflösung.
Gemeinwohlorientierung als wichtigste Anforderung an KI
Dazu passt, dass die TeilnehmerInnen der Studie eine stärkere Gemeinwohlorientierung mehrheitlich als wichtigste Anforderung an zukünftige KI-Technologien betrachten. Zudem schätzen die Befragten einige Entwicklungen, die als wirtschaftlich vorteilhaft angesehen werden, in sozialer Hinsicht als eher kritisch ein.
Zu einem solch geteilten Meinungsbild kommt es etwa hinsichtlich des Datenschutzes, der Einflussnahme von KI auf private Entscheidungsprozesse, der Auflösung klassischer Beschäftigungsverhältnisse und einer höheren Transparenz der Arbeitsleistung.
Die Notwendigkeit einer staatlichen Regulierung und Kontrolle von KI-basierten Produkten und Dienstleistungen wird hingegen mit positiveren Effekten für das Gemeinwohl als für die Unternehmen in Verbindung gebracht. Darüber hinaus haben sich in der Wahrnehmung der Befragten die Diskussionen zu Künstlicher Intelligenz zu wandeln begonnen: Die technische Betrachtungsweise wird zunehmend um eine nutzerorientierte Perspektive ergänzt.
„Dieser Studie kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, da sie einen konsequent mehrdimensionalen, interdisziplinären Ansatz verfolgt, der den Mensch in den Mittelpunkt rückt. Die Ergebnisse sind als Grundstein für einen breiten, zukunftsgewandten Diskurs zu betrachten. In dessen Rahmen können wir als Gesellschaft gestalten, welche der Möglichkeiten neuer KI-Technologien in welcher Form künftig genutzt werden sollen“, sagt Professor Helmut Krcmar, Vorsitzender des Forschungsausschusses beim „Münchner Kreis“ und Gründungsdekan des Campus Heilbronn der Technischen Universität München.
„Was unser Leben in der Zukunft anbetrifft, brauchen wir KI nicht nur in den Städten – Stichwort Smart City – sondern auch ausserhalb der Ballungsräume. Für beide brauchen wir Dasselbe, und zwar schnell: gemeinsames, koordiniertes Vorgehen und Standards. Die Akzeptanz ist offensichtlich vorhanden“, ergänzt Joseph Reger, Chief Technology Officer Central and Eastern Europe bei Fujitsu, dem Förderpartner der Studie.
Kurzfristige Handlungsempfehlungen an die Politik (ein bis zwei Jahre)
1.) Vertrauen in den Einsatz von Algorithmen schaffen
Es braucht einen Ordnungsrahmen für die Entwicklung und Nutzung von KI-Technologien. Die Standards und Richtlinien sollten insbesondere die Aspekte Ethik, Transparenz, Datenqualität, Nutzerzentrierung sowie die informationelle Selbstbestimmung berücksichtigen.
2.) KI muss dem Wohl der BürgerInnen dienen
Es bedarf geeigneter gesetzgeberischer Massnahmen, um Wissen und Informationen zu Algorithmen zu demokratisieren und KI-Technologien als gesamtgesellschaftliches Gemeingut zu verstehen helfen.
3.) Grundlegendes Verständnis von KI erreichen
Die Politik sollte es sich zur Aufgabe machen, der breiten Bevölkerung das Thema Künstliche Intelligenz näher zu bringen und somit die Akzeptanz zu erhöhen. Strategien zur Vermittlung müssten auf Fakten basieren, verschiedene Disziplinen einbeziehen sowie Nutzen und Risiken von KI-Technologien klar benennen.
4.) Das Bildungswesen fit für KI machen
Um die passenden Fähigkeiten im Umgang mit Algorithmen zu entwickeln, kommt es darauf an, Wissen und Anwendung rund um KI in sämtlichen Bildungseinrichtungen zu verankern – angefangen in der Grundschule bis hin zu beruflichen oder staatlichen Weiterbildungsangeboten. Das betrifft sowohl KI als Lerninhalt wie auch als -instrument.
5.) Die berufliche Weiterentwicklung unterstützen
Angesichts eines hohen Veränderungsdrucks und neuer Tätigkeitsprofile nutzt der Erwerb von KI-Kompetenzen sowohl Betrieben als auch den Beschäftigten. Die Politik sollte Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Unternehmen ihre Verantwortung in der Aus- und Weiterbildung ihrer MitarbeiterInnen wahrnehmen, insbesondere beim lebenslangen Lernen.
Mittelfristige Handlungsempfehlungen an die Politik (drei bis vier Jahre):
6.) KI-Bildung inter- und transdisziplinär gestalten
Dies bedeutet, dass Aus- und Weiterbildungsinhalte zum Thema KI fächerübergreifend ausgerichtet sein sollten, um zum Beispiel auch Fachgebiete wie Pädagogik oder Psychologie zu berücksichtigen. Das setzt eine intensive Zusammenarbeit zwischen (Bildungs-)Politikern und den jeweiligen ExpertInnen voraus.
7.) Den Dialog zwischen Unternehmen und MitarbeiterInnen fördern
Ein wichtiger Beitrag der Politik besteht darin, einen offenen Austausch über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten und Konsequenzen von KI in der Unternehmenspraxis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu forcieren und zu begleiten.
8.) Verhältnis von KI und menschlicher Arbeitsleistung justieren
Der Einsatz von Algorithmen verändert berufliche Tätigkeiten. Politik, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter müssen gemeinsam Lösungen entwickeln, um Arbeitsplätze trotz verstärkter Automatisierung zu erhalten. Diese Regelungen sollten dann auch Eingang ins Arbeitsrecht finden.
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