Überraschung in der Tiefsee
Von: Sebastian Grote
Sie gelten als eine der primitivsten Formen tierischer Lebewesen, denn sie weisen weder Fortbewegungsorgane noch ein Nervensystem auf: Schwämme. Jetzt hat ein internationales Team um die Tiefseeforscherin Antje Boetius entdeckt, dass Schwämme in der arktischen Tiefsee Spuren am Meeresboden hinterlassen. Sie schliessen daraus, dass die Tiere sich aktiv fortbewegen könnten – wenn auch nur mit wenigen Zentimetern pro Jahr. Diese einmaligen Erkenntnisse veröffentlichen sie in der Zeitschrift Current Biology.
Schwämme hinterlassen Spuren am Meeresboden der Tiefsee. Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass die Tiere festsitzen. (Foto: AWI OFOBS team PS101)
INFO
Dass Schwämme Tiere und keine Pflanzen sind, haben Forscher erst im 19. Jahrhundert herausgefunden. Unter dem Mikroskop waren Mehrzeller zu erkennen, die Partikel einstrudelten und frassen.
Schwämme bestehen aus feinen, wasserdurchlässigen Poren. Sie haben kein Gehirn, keine Nervenzellen, keine Organe, keine Muskeln. Normalerweise sind sie fest mit ihrem Untergrund verwachsen und bewegen sich nicht vom Fleck. Weil sie nicht aktiv nach Nahrung suchen können, muss die Nahrung demzufolge zu ihnen kommen. Dafür haben sie verschiedene Strategien entwickelt.
In den gemässigten Breiten und in den kühleren Meeren wird gefiltert: Mit dem Wasser werden winzige Nahrungspartikel, zum Beispiel Bakterien, eingestrudelt und gefressen. Das machen bewimperte Zellen möglich. Die Wimpern wedeln Wasser und damit Nahrung in den Schwamm. Tropische Schwämme dagegen ernähren sich von den Stoffwechselprodukten ihrer Lebenspartner, Algen oder Bakterien, mit den sie hochspezialisierte Gemeinschaften eingehen.
Die Überraschung war gross, als Forschende sich hochauflösende Aufnahmen vom Meeresgrund der arktischen Tiefsee detailliert anschauten: Pfadähnliche Spuren auf dem Meeresboden endeten dort, wo Schwämme sassen. Die Spuren führten in alle Richtungen, sogar bergauf.
„Wir schliessen daraus, dass die Schwämme sich aktiv über den Meeresboden bewegt haben könnten und als Ergebnis ihrer Bewegung Spuren hinterlassen“, berichtet die Schwammforscherin Dr. Teresa Morganti vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen. Das sei deshalb besonders spannend, weil die Wissenschaft bisher davon ausgegangen war, dass die meisten Schwämme am Meeresboden festsitzen oder passiv von Meeresströmungen bewegt werden und in der Folge gegebenenfalls Hänge hinab rutschen.
„In der arktischen Tiefsee treten keine starken Strömungen auf, die die vorgefundenen Strukturen am Meeresboden erklären könnten,“ erläutert die Expeditionsleiterin Prof. Dr. Antje Boetius, die mit dem Tiefseebiologen Dr. Autun Purser vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- Meeresforschung (AWI) zusammenarbeitet.
Die veröffentlichten Aufnahmen entstanden bei 87 Grad 30 Nord, am etwa 350 Kilometer vom Nordpol entfernten Tiefseeberg Karasik Seamount mit dem Forschungseisbrecher Polarstern und einem geschleppten Kamerasystem OFOBS (Ocean Floor Observation and Bathymetry System / Meeresbodenbeobachtungs- und Bathymetriesystem). „Mit dem OFOBS können wir 3 D-Modelle aus der Tiefsee erstellen. Der Gipfel des Seamounts war dicht mit Schwämmen besiedelt. 69 Prozent unserer Bilder wiesen Spuren aus Schwammnadeln auf, von denen viele zu lebenden Tieren führten“, berichtet Autun Purser.
Aus diesen Beobachtungen erwachsen viele Fragen: Warum bewegen sich die Schwämme? Und wie orientieren sie sich? Mögliche Gründe für die Fortbewegung könnten Nahrungssuche, die Vermeidung ungünstiger Umweltbedingungen oder die Verbreitung der Nachkommen sein.
Gerade die Nahrungssuche spielt in nährstoffarmen Ökosystemen wie der arktischen Tiefsee eine grosse Rolle. Dort haben die Schwämme ohnehin eine wichtige Funktion, denn als Filtrierer können sie Partikel und gelöste organische Substanzen verwerten und sind mit Hilfe ihrer bakteriellen Symbionten intensiv am Nährstoffrecycling beteiligt. Ausserdem bilden Schwämme mit ihren Strukturen einen Lebensraum für arktische Fische und Garnelen. Den Mechanismen der Fortbewegung müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch noch weiter nachgehen.
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