Viren auf dem Vormarsch
Von: Ute Kamlah
Viruserkrankungen halten Fachleute das ganze Jahr auf Trab. Prof. Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel nutzt grosse Datenmengen aus den Erbgut von Viren, um deren Ausbreitung über den Globus hinweg mitzuverfolgen.
Prof. Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. Auf dem Bildschirm ist ein Stammbaum aus verschiedenen Virenstämmen zu sehen.
Die Grippezeit fällt in die Wintermonate. Für Fachpersonen beginnt die Grippesaison jedoch schon ein Jahr bevor die Krankheit Tausende von Menschen mit Fieber, Gliederschmerzen und Kopfweh ins Bett zwingt. Wenn man nämlich weiss, wie die Viren einer Grippesaison genetisch zusammengesetzt sind, kann man auf dieser Grundlage einen Impfstoff entwickeln, der Menschen vor Viren schützt, die im Folgejahr Grippe auslösen werden.
So hat die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits im Februar 2018 die Virenstämme bezeichnet, welche für die Grippesaison im Winter 2018/19 relevant sein werden. Auf dieser Grundlage können Hersteller nun im Verlauf dieses Jahres die Impfstoffe für die kommende Grippesaison produzieren. Damit ist sichergestellt, dass sich ältere Menschen und andere Risikopersonen im Herbst 2018 gegen die nächste Grippe impfen lassen können.
Wandlungsfähige Viren
Viren sind sehr wandlungsfähig. Sie verändern ihre Oberfläche im Verlauf der Zeit. Das ist der Grund, weshalb sie mitunter vom menschlichen Immunsystem nicht mehr erkannt und bekämpft werden können. Daher muss immer wieder untersucht werden, wie die Oberfläche der aktuell grassierenden Viren aussehen. Das erlaubt dann die Entwicklung von Impfstoffen, die das Immunsystem in die Lage versetzen, die in den Körper eindringenden Viren zu erkennen und damit den Ausbruch einer Grippe zu unterbinden.
Wie genau die Oberfläche eines Virus' beschaffen ist, wird durch das Erbgut bestimmt. Die Erbanlagen entscheiden nämlich, mit welchen Proteinen die Oberfläche der Viren bestückt ist und wie gut es ihnen gelingt, an Körperzellen anzudocken und anzugreifen.
Wie das Erbgut eines Virus aufgebaut ist, lässt sich heute exakt bestimmen: Dieses besteht aus ca. 14'000 Bausteinen (Basen), die sich auf acht Basenstränge ('Segmente') verteilen. Zum Vergleich: Das Erbgut in einer menschlichen Zelle besteht aus sechs Milliarden Doppel-Bausteinen, die sich auf 46 Chromosomen verteilen. Dank moderner Methoden können Wissenschaftler das Erbgut von Viren heute schnell und kostengünstig analysieren: Es dauert gerade mal einen Tag, um das Erbgut von 100 Viren gleichzeitig zu entschlüsseln, und dies für lediglich 30 Fr. pro Virus (Personalkosten nicht eingerechnet).
Verwandtschaften erkennen
„Die moderen Sequenzierungsmethoden eröffnen uns völlig neue Möglichkeiten, denn anhand der genetischen Daten können wir die Ausbreitung von Viren heute exakt nachvollziehen“, sagt Prof. Dr. Richard Neher. Neher ist seit Februar 2017 Associate Professor für 'Computational Modeling of Biological Processes' am Biozentrum der Universität Basel.
Neher sitzt in seinem Büro im sechsten Stock des Biozentrums nordwestlich der Basler Altstadt. Auf seinem Computerbildschirm sieht man einen Stammbaum, der von links nach rechts wächst. Die Darstellung zeigt, wie sich verschiedene Virenstämme in den letzten drei Jahren entwickelt haben. „Wenn sich ein Virus vermehrt, kommt es immer zu kleinen Veränderungen im Erbgut. Dank dieser Veränderungen können wir die weltweit auftretenden Viren zu einem Stammbaum ordnen und damit exakt bestimmen, in welchem 'Verwandtschaftsverhältnis' sie stehen.“
Der Stammbaum beruht auf 2‘500 representativen Viren aus insgesammt rund 30'000 Viren, deren Erbgut in den letzten Jahren bei Grippepatientinnen und -patienten weltweit mit einem Abstrich in Mund oder Nase entnommen und anschliessend entschlüsselt wurde.
Für jedes Virus enthält die 2015 eingerichtete Datenbank, die auf den Daten der bereits 2008 gegründeten internationalen GISAID-Datenbank aufbaut, das gesamte oder zumindest einen wesentlichen Teil des Erbguts (also bis zu 14‘000 Basen). Zudem ist die Herkunft jedes Erbguts erfasst:
Das Virus, das Richard Neher gerade anklickt, wurde am 7. Juli 2015 bei einer 47jährigen Frau in Costa Rica entnommen. Die Datenbank umfasst somit bis zu 14‘000 Bausteine von 30'000 Viren, zudem weitere Informationen zu den Personen, bei denen die Viren entnommen wurden. Und die Datenbank wächst ständig weiter: Jede Woche kommen mehrere Dutzend oder Hundert neue Virengenome hinzu, die von nationalen Influenza-Zentren oder Kompetenzzentren der WHO zur Verfügung gestellt werden.
Mit dem Denkgerüst der Physik
Um solch gewaltige Datenmengen sammeln, speichern und auswerten zu können, sind heute Spezialisten wie Richard Neher gefragt, die gleichermassen über Wissen in der Informationsverarbeitung und in der Biologie verfügen.
„Die Integration vieler Informationsquellen ist eine grosse Herausforderung, wir mussten erst einmal die entsprechenden Methoden entwickeln“, erläutert Neher. „Das ist eine interdisziplinäre Arbeit, ich verwende dafür das Denkgerüst aus der Physik“, sagt der Wissenschaftler, der an den Universitäten Göttingen und München Physik studiert hat, dann als Physiker in Santa Barbara (Kalifornien) arbeitete, bevor er an das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen und von dort schliesslich nach Basel wechselte. Beim Aufbau des Viren-Webportals arbeitet er mit Prof. Trevor Bedford (Fred Hutchinson Cancer Research Center, Seattle) zusammen.
Das Webportal für Grippe-Viren steht heute nicht mehr allein. Entsprechende Webportale wurden in den letzten Jahren für Viren wie Ebola (nextstrain.org/ebola) und Zika (nextstrain.org/zika) aufgebaut. „Dank dieser Bioinformationssysteme können wir die Ausbreitung der Viren detailliert nachvollziehen. Wenn wir die Übertragungswege kennen, hilft das den Ärzten und Epidemiologen, entsprechende Schutzmassnahmen zu ergreifen“, betont Neher. Voraussetzung dafür ist, dass eine hinreichende Zahl von Proben gesammelt, analysiert und schnell in die Datenbank eingepflegt wird.
Von Viren zu Bakterien
In Zukunft könnten ähnliche Datenbanken auch für Bakterien entstehen, wie Richard Neher sagt. „Das stellt uns allerdings vor ganz neue Herausforderungen, denn das Genom eines Bakteriums umfasst fünf bis zehn Millionen Basen, und es gibt darin neben einfachen Mutationen mitunter auch horizontalen Gentransfer. Dabei handelt es sich – salopp gesagt – um den Austauch von Genen via Cut-and-Paste-Operationen. Diese machen es schwieriger, die Generationenfolge zwischen Bakterien zuverlässig zu bestimmen.“
Nehers Forschungsteam hat in diesem Bereich bereits ein Projekt mit dem Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel am laufen. Im Fokus stehen hier Mykobakterien, die für die Übertragung der Lungenkrankheit Tuberkulose verantwortlich sind.
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