Ausnahmezustand durch Sabine
Von: Elisha
Als ich mich in den Hausflur schob, wehten einige Blätter zwischen meine Schuhe und blieben auf den Fliesen kleben. Das Telefon klingelte oben in meiner Wohnung, und ich rannte die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal.
Hallo“. Ich war völlig ausser Atem.
„Delia?“
„Ja, Schatz, ich komme gerade rein. Bist du etwa schon zu Hause?“
„Bin ich. Die Verwaltung hat uns den Nachmittag frei gegeben, wegen der Orkanwarnung.“
„Ach, deshalb war es im Laden so leer. Ich komme gerade vom Einkaufen.“
„Ja, wie im Ausnahmezustand.“ Ich konnte Matthias fast grinsen hören.
„Ist es denn wirklich gefährlich?“
„Keine Ahnung. Ich denke, es geht um eine Absicherung, falls wirklich etwas passiert.“ Ein Zögern, dann: „Aber vielleicht sollten wir das Kino heute lieber ausfallen lassen. Wir können uns jeder in seinem Kämmerlein vor den Fernseher setzen und unsere Sendung gucken.“
„Gut, das verbindet, und wir brauchen sie nicht aufzunehmen.“ Ich war einverstanden. „Kino geht ja auch nächste Woche.“
Nach dem Auflegen packte ich die Taschen aus und räumte die Lebensmittel ein. Durch das Küchenfenster konnte ich durch einen Regenfilm die Wipfel der Bäume schwanken sehen. Ich öffnete das Fenster, und das Säuseln der Blätter und das Fallen der Regentropfen steigerte sich zu einem Brausen. So ein Wetter liebte ich, wenn ich sicher im Trockenen sass. Es fehlte nur noch ein Becher mit heissem Jasmintee. Während ich den Wasserkocher füllte, lauschte ich dem gleichförmigen Rauschen draussen, das immer wieder von kurzen, heftigen Böen durchbrochen wurde. Ich goss den Tee auf und starrte aus dem Fenster.
Eigentlich fühlte ich mich richtig gut. Diese mitreissende Energie, die irgendwie auf mich überging, bei der ich mich lebendig fühlte! Die feuchte Fensterbank, die mit kleinen Wassertröpfchen besprüht worden war, nahm ich in Kauf für die hautnahe Teilhabe an diesem Wetter. Ich füllte meine Keramiktasse und schlürfte. Herrlich, innerlich gewärmt und da draussen dieses Spektakel!
So ein Sturm wie jetzt war in den letzten Jahren nicht mehr ungewöhnlich, die Orkanwarnung in den Medien allerdings neu, und es sollte sich ja noch steigern. Da fiel mir mein Zahnarzttermin wieder ein. Ob die überhaupt auf hatten? Ich wählte die Nummer und fragte nach.
„Ja, wir haben geöffnet“, klang es vom anderen Ende der Leitung. „Aber viele Patienten haben abgesagt. Wollen Sie trotzdem kommen?“
Ich überlegte. Mit dem Auto konnte ich bis fast vor das Haus fahren. „Kein Problem. Wann soll ich kommen?“
„Auch gern früher. Das Wartezimmer ist leer.“
Im Zahnarztstuhl lehnte ich mich zurück und horchte auf die Entspannungsmusik, die das Stürmen kaum überdecken konnte. Wie Böen durchbrach das Poliergerät beim Entfernen des Zahnsteins die sanften Melodien, aber bald war alles erledigt.
Ich setzte mich in den Wagen und wollte starten, doch nur ein leises Klacken als Antwort. Mist! Ich hatte bei meinem alten Gefährt das Licht angelassen, und das schon zum zweiten Mal in drei Tagen. Beim letzten Mal hatte ich die Batterie durch anschieben lassen und ein paar Kilometer Fahrt notdürftig aufgeladen, aber jetzt schien sie völlig leer zu sein. Was tun?
Die Wohnung von Matthias war näher als meine, und ich freute mich auf sein überraschtes Gesicht, wenn ich plötzlich im Wohnzimmer auftauchte. Wir könnten auf dem Sofa kuscheln ... Au ja, das war es! Meine Lieblingsstrecke führte durch den Park, war aber kürzer, und nach kurzem Zaudern machte ich mich auf den Weg.
Als ich über den Holzsteg schritt, schimmerte der kleine Kanal, der das Wasser vom Teich abführte, dunkel und breit am oberen Rand seiner Zementwanne. Zweige mit Blättern und Regentropfen wurden durch die Luft gewirbelt, die aufgeladen wirkte. Der Wind blähte meine Regenjacke und fegte mir immer wieder die Kapuze vom Kopf. Ich zog sie zusammen und verknotete sie unter dem Kinn, aber abrupt nahm ich die Welt nur noch gedämpft wahr.
Das ging gar nicht! Als Frau, die gern allein durch den Park ging, hatte ich mir ein aufmerksames Gehör angewöhnt, um Risiken einschätzen zu können. Genau wie das Pfefferspray in der Jackentasche gehörte das zu meinen Schutzmassnahmen. Ich löste den Knoten wieder und sah mich um. Im ganzen Park weit und breit kein Mensch, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte. Keine Bedrohung, aber auch keine mögliche Hilfe! Plötzlich ängstigte mich eine Vorstellung: meine Schreie, vom Tosen des Windes erstickt, die Spraysalve, die durch den Gegenwind in meine eigenen Augen getragen würde. Ich beschleunigte meine Schritte.
Dann am Ufer eine Gestalt, ruhig und aufrecht zwischen den Büschen. Merkwürdig klein und schmal, wie ein Kind. Ich stockte, näherte mich dann aber vorsichtig. Ein Drehen des Kopfes, und erleichtert erkannte ich die Silhouette: ein Reiher. Ob er sich hier sicherer fühlte als drüben auf der Vogelinsel, im schwankenden Horst in den Bäumen? Ich ging an ihm vorbei, am Teich entlang, über dessen Oberfläche immer wieder Böen fegten.
Kurz hinter dem Park dann durch menschenleere Strassen bis zur Wohnung von Matthias. Als ich den Schlüssel umdrehte und ins Wohnzimmer kam, läutete der Fernseher gerade unsere Sendung ein. Im gedimmten Licht erkannte ich eine Gestalt auf dem Sofa, in eine Decke eingehüllt. War Matthias eingeschlafen? Ich setzte an, um ihn wach zu küssen, als ich ein helles Kichern hörte und dann Matthias’ dunkle Stimme: „Ach komm schon, was ist denn dabei?“
„Matthias?“, fragte ich ungläubig und fühlte mich im falschen Film.
„Was macht die denn hi...?“ Über der Decke tauchte der Kopf von Anja, der neuen Nachbarin, auf, und mit einer schnellen Bewegung griff sie nach einem schwarzen Etwas vor dem Sofa, ihrem BH vielleicht.
„Delia, es ist nicht so, wie du denkst!“ Matthias setzte sich mit einem Ruck auf und zog Anja dabei die Decke von den Schultern. „Der Sturm ist schuld. Es ist eine Ausnahme.“
„So?“, fragte ich spitz. „Dann mache ich ausnahmsweise mal Schluss.“ Damit drehte ich mich um, verliess die Wohnung und zog das Handy aus der Tasche, um mir ein Taxi zu rufen.
Am nächsten Tag zeigte das regionale Programm, welche Schäden der Orkan in unserer Stadt angerichtet hatte. Auf der Stadtautobahn hatte es Verletzte bei einem Auffahrunfall gegeben, als ein abgerissener Ast beide Spuren versperrt hatte. Richtig übel aber wurde mir bei den Bildern aus dem Stadtpark: der Weg rund um den Teich lag voller umgestürzter Bäume, deren Wurzelumfang bis zu zwei Metern reichte. Ich brauchte nicht viel, um mir vorzustellen, was eine derart starke Bö mit mir angerichtet hätte.
Während ich Matthias’ Sachen zusammensuchte und in einen Karton packte, breitete sich ein Gefühl der Dankbarkeit aus, noch einmal davon gekommen zu sein.
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