Wunschkarussell
Von: Elisha
Von aussen schien alles anders, als es war. Während Sina jeden Morgen zur gewohnten Zeit in ihr Auto stieg, um zur Arbeit zu fahren, war bei ihrer Nachbarin der Vorhang noch zugezogen. Sie wusste, Marie war im Home-Office, und anscheinend fing sie später mit der Arbeit an.
Während Sina im Wagen sass, träumte sie von den Möglichkeiten zu Hause. So viele Beiträge hatte sie von Menschen gelesen, die die Corona-Krise zur Entwicklung ganz neuer Fähigkeiten genutzt hatten. So waren aufwendige Mahlzeiten und köstliche Kuchen erschaffen worden, oder wenigstens wurde das Brot nun selbst gebacken. Kein Wunder, dass in den Geschäften die Hefe plötzlich knapp wurde! Oder ganz neue handwerkliche Fertigkeiten wurden erlernt und zur Aufarbeitung und Neudekoration der Möbel genutzt.
„Das hat doch nichts mit dem Ort zu tun, an dem ich arbeite“, stöhnte Marie, als sie im Laden aufeinander trafen und Sina ihr ihren Neid beichtete. „Ich kann mir jetzt nur die Anreise sparen, endlich mal kein Stau auf dem Weg zur Arbeit. Die Anforderungen bleiben doch dieselben, egal wo.“ Sie zögerte, fügte dann noch hinzu: „Und im Zweifelsfall arbeite ich jetzt noch länger, weil ich ja keinen Kollegen gegenüber habe, der sieht, wie konzentriert ich arbeite.“ Sie lächelte schuldbewusst. „Und der mich mal zu einer Pause einlädt. Mein Tee wird immer noch kalt.“
Sehnsüchtig sah Marie zu einer Frau hinüber, die ein Paket Mehl aus dem Regal hob und es einem kleinen Mädchen in beide Hände gab, damit diese es in den Einkaufswagen legen konnte.
„Hey, Monika, was gibt es denn heute Leckeres bei euch?“
Die Frau verstand nicht. „Nudeln, wieso?“
„Ich dachte, du bringst deiner Tochter bei, was du Grandioses mit dem Mehl zaubern kannst“, sagte Marie und näherte sich ein wenig, damit sie nicht mehr so laut rufen musste.
„Nee, für die Kinder muss es immer was Einfaches geben. Was bin ich froh, wenn sie wieder in die Schule können. Da essen sie am liebsten.“
Monika sah im nächsten Gang eine ältere Dame stehen, die sich auf ihren Rollator stützte, während sie die Auswahl der Konserven betrachtete.
„Frau Höpfeli, Sie hätten doch Bescheid geben können, dass Sie wieder etwas brauchen. In dieser Zeit sollten Sie sich doch schützen. Sie wissen ja, ich bringe Ihnen gern alles vorbei.“
Die Dame zuckte zusammen, als hätte man sie bei einem Vergehen ertappt. „Das ist auch sehr nett. Aber immer nur zu Hause … Ich musste mal wieder raus gehen, selbst etwas tun.“ Damit griff sie beherzt nach einem Glas saurer Gurken.
Von der anderen Seite näherte sich eine Frau mittleren Alters, unter deren Jacke ein medizinischer Kittel zu sehen war. Eine Heldin, dachte Frau Höpfeli, niemand, der sich fragen muss, ob sie denn noch etwas wert ist …
Vor Monaten hatten Menschen abends Beifall geklatscht für die Ärzte und Pfleger. Das hatte sie im Fernsehen gesehen. Es fühlte sich an, als wären Jahre vergangen, so schnell änderte sich alles. Aber ein wenig Aufmerksamkeit würde ihr gut tun.
„Frau Leonhard, Sie sehen müde aus. Wollen Sie sich mal kurz setzen?“ Damit deutete sie auf ihren Rollator.
„Ist das so offensichtlich?“ Ihr Gegenüber wirkte erschreckt, klopfte sich mit der Hand auf die Wangen und stellte sich aufrechter hin. „So, gleich besser, oder?“
Die Frau nahm sich ein Glas aus dem Regal und machte sich auf zur Kasse. Die Schlange war lang, alle hielten den nötigen Abstand. Wenigstens das hatte geklappt in der Krise, die sie langsam, aber sicher auffrass. Sie war so ausgelaugt, nicht nur von dem Kampf auf der Arbeit. Sie war so müde, immer wieder in Diskussionen hineingezogen zu werden, von ungebildeten Menschen, die stolz auf ihr Halbwissen waren und gar nicht merkten, welchen Unsinn sie von sich gaben. Wie sehr wünschte sie sich manchmal, einen anonymen, stinknormalen Beruf zu haben, den sie ohne Beachtung der Öffentlichkeit erledigen konnte. Da würde sie morgens einfach zur Arbeit fahren und von schöneren Dingen träumen.
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