Ein schlechter Tag
Von: Elisha
Milena konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Sie atmete tief durch, nahm den Gang heraus und blieb stehen. Dem Fahrer hinter ihr war nichts übrig geblieben, als selbst anzuhalten, und so stand der mächtige schwarze Wagen nur wenige Zentimeter hinter ihrer Stossstange.
„So ein Angeberauto“, rief Milena aus, als sie die Bewegung im Rückspiegel registrierte, „was hat der wohl zu kompensieren?“. In dem Moment ertönte ein durchdringend tiefer Ton wie das Horn eines Dampfers. Ganz anders als das quäkende Geräusch, das Milenas Hupe bei Gefahr hervorbrachte.
„Echt jetzt?“ Sie dreht sich um und streckte die Zunge heraus. „Hast du wirklich so einen kleinen Penis?“ Durch die verspiegelte Scheibe konnte sie das Gesicht des Fahrers nicht erkennen.
Sie wünschte sich ihre Freundin Bibi herbei. Denn obwohl sie sich insgeheim über den Fahrer hinter sich lustig machen konnte, war sie froh, hier in ihrem kleinen Schutzraum zu sein. Nie hätte sie sich getraut, was Bibi mal passiert war: als diese den Wagen abgewürgt hatte und mehrfach vergeblich versuchte, ihn neu zu starten, hatte sich nicht nur ein Grüppchen gaffender Zuschauer gebildet, sondern der Fahrer hinter ihr hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als das mit einem anhaltenden Dauerton zu kommentieren.
Wütend war sie ausgestiegen und auf das Auto zugegangen, hatte seine Fahrertür aufgerissen und laut für alle Anwesenden hörbar gesagt: „Ich habe da gerade ein Problem mit dem Starten. Vielleicht können Sie ja mal helfen, ich übernehme dann hier das Hupen für Sie.“ Der Mann war knallrot geworden und hatte etwas gestammelt, und die umstehenden Leute hatten sich schnell zerstreut. Er hatte es nicht mehr gewagt, noch einmal zu hupen, sondern war auf dem Fahrersitz zusammengesunken sitzen geblieben. Ja, wäre Bibi doch jetzt da!
Milena sah wieder auf die Fahrbahn, und die alte Frau, die der Grund für ihren hastigen Stopp gewesen war, war zwei Meter weiter vorangekommen. Ihre trippelnden Schritte wirkten unsicher, und der geschobene Rollator vor ihr schien nicht den gewünschten Halt zu geben. Vermutlich lag das an dem Paket Milch, das die alte Frau oben auf die Sitzfläche gestellt hatte, anstatt es in den Korb hinten zu legen. Oder war jeder Schritt schmerzhaft, eine stoisch ertragene Tortur? Auf jeden Fall würde es noch dauern, bis die Alte die Fahrbahn soweit überquert hätte, damit Milena ihren Kleinwagen an ihr vorbei bewegen konnte.
Das Nebelhorn hinter ihr ertönte von neuem.
„Hast du keine Augen im Kopf?“, schrie sie auf und streckte ihren Mittelfinger in die Luft. Um sicher zu gehen, dass der Fahrer hinter ihr die Beleidigung auch wahrnahm, schwenkte sie ihre Hand hin und her.
Dann endlich konnte sie losfahren, der Wagen hinter ihr tat es ihr gleich. Auch als sie rechts um die Ecke in die Seitenstrasse bog, folgte er ihr. Milena wurde es mulmig zumute, und zur Ablenkung fuhr sie anders als geplant ins nächste Parkhaus. Der schwarze Wagen war immer noch hinter ihr, stieg wie sie Runde um Runde hinauf, bis sie oben auf dem Deck unter freiem Himmel ankam. Es hatte keinen Zweck, weiter zu fliehen. Gegen das grosse Auto hatte sie keine Chance.
Sie hielt an, stieg aus und suchte eine Route zwischen den abgestellten Fahrzeugen, auf der sie vielleicht zu Fuss entrinnen könnte. Niemand war da, den sie um Hilfe bitten konnte, und sie musste sich dem Gegenüber stellen. Noch wusste sie nicht, ob der Fahrer sie nur zusammen schlagen würde oder ob sie vom Dach des Parkhauses gestossen werden sollte. Sie zitterte ein wenig, als der schwarze Geländewagen neben ihr hielt. Was dann kam, überschritt aber ihre Erwartungen.
Eine hochgewachsene, junge Frau stieg aus und kam auf sie zu. Sie hielt ihr die Hand entgegen und sagte freundlich: „Als ich das erste Mal gehupt habe, war ich so erschreckt, dass Sie plötzlich angehalten haben.“ Sie ergriff Milenas Hand, die schweigend schluckte.
„Und dann habe ich die alte Frau gesehen und verstanden. Da tat mir das Hupen leid, und ich wollte mich entschuldigen. Deshalb habe ich das zweite Mal gehupt.“
Milena sah sie ungläubig an. „Sie wollten sich damit entschuldigen?“
„Ja, aber das scheint ja nicht geklappt zu haben. Darum wollte ich es Ihnen lieber persönlich sagen.“ Jetzt schluckte auch sie, bevor sie hinzufügte: „Damit Sie nicht durch mich einen schlechten Tag haben!“
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