Wie vom Schicksal gefügt
Von: Elisha
Nadine wäre gern noch länger beim Tanzen geblieben, aber der muskulöse Mann mit den tätowierten Unterarmen verfolgte jede ihrer Bewegungen. Dabei hatte sie ihm schon dreimal gezeigt, dass sie kein Interesse hatte, hatte sich geweigert, mit ihm zu tanzen, ein Gespräch abgelehnt, deutlich „Nein“ gesagt.
Er hatte einfach weiter geredet, ihr eine Nacht der süssen Träume versprochen und hatte eine obszöne Geste gemacht, indem er seine Zunge zwischen Zeige- und Mittelfinger steckte und vor und zurück bewegte. Sie war in die Ecke des Raumes geflüchtet, an den Rand der Tanzfläche, aber seine Blicke spürte sie bei jedem Move auf sich.
„Willst du schon los?“, fragte Sandra.
„Ja, bin müde.“ So gut kannte Nadine ihre Nachbarin nicht, dass sie sich ihr anvertrauen wollte. Sie nahm Jacke und Schal und ging zur Tür hinaus. Draussen rieselten einzelne Flocken aus dem Himmel, und mit vorsichtigen Schritten testete Nadine den Boden auf seine Glätte. Kein Glatteis, aber kalt in den ausgeschnittenen, hochhackigen Schuhen. Sie ging langsam weiter und überquerte die Strasse. Hinter ihr hörte sie, wie noch jemand durch die Tür kam, und mit einem kurzen Blick zurück erkannte sie ihren „Verehrer“.
Ein Schreck durchfuhr sie, und sie beschleunigte ihren Gang. Kein Mensch war bei dem Wetter unterwegs, nur aus dem Wirtshaus am Ende der Strasse drang gedämpfte Musik. Mit kleinen Schritten näherte sie sich und schlüpfte durch die gläserne Eingangstür. Drinnen dudelte irgendeine Melodie, und die Frau hinter dem Tresen pinselte Nagellack auf ihre Fingernägel. Sie schaute nur kurz auf, und Nadine sagte leise: „ Ein Wasser, wenn Sie fertig sind. Hat aber keine Eile.“ Dann suchte sie sich einen Platz im hinteren Bereich. Ausser ihr war nur noch ein Gast da. Ein kleiner, magerer Mann mit Riss im Jackenkragen sass vor einem Glas Bier und starrte in die Luft. Er kramte in der vorderen Tasche und holte Tabak und Papier hervor. Mit zitternden Händen begann er, sich eine Zigarette zu drehen.
Die Tür wurde geräuschvoll aufgezogen, und der muskulöse Mann aus der Tanzhalle trat ein. Er sah sich um und lächelte.
„Ah, da ist ja meine Schönheit!“, sagte er mit gellender Stimme und lachte auf. „Gute Idee, hier ist es ja viel intimer!“ Seine Stiefel krachten bei jedem Schritt auf den Boden.
„Ein Bier für meine Braut und mich!“, rief er der Bedienung zu, die gelassen das Nagellackfläschchen zuschraubte.
Als er an dem kleinen Mann vorbeikam, schnappte er sich dessen Bierglas. „Da ist ja schon eins!“ Er lachte und stürzte die ersten Schlucke hinunter. „Gut!“ Damit wischte er sich den Schaum aus dem Bart und trank weiter. Der kleine Mann neben ihm brach in Tränen aus.
„Ach, komm, du weinst um ein Bier?“ Der bärtige Hüne schlug ihm jovial auf die Schulter. „Ich bestell dir noch eins.“
„Das ist es nicht!“ Der Mann schluchzte lauter. „Was hast du bloss getan?“ Damit hielt er den grossen Mann am Ärmel fest. Der wollte ihn abschütteln.
„Meine Ehe ist kaputt, mein Haus verpfändet“, begann der kleine Mann zu reden und hielt den Arm weiter fest, „und ich wollte meinem Leben ein Ende setzen. Ich habe mich in der Kälte auf die Gleise gelegt, aber der Zug fährt dort gar nicht mehr.“ Er schluchzte, dann ging der Wortschwall weiter. „Und dann bin ich von der Brücke gesprungen, aber an einem Ast hängen geblieben.“ Er zeigte auf den Riss in der Jacke. „Das hat mir nur den Kragen kaputt gemacht.“
Nun war es ein leichtes, sich aus dem Griff des kleinen Mannes zu winden. Der grosse Mann ging weiter auf Nadine zu, sagte erwartungsvoll: „So, Kleine, jetzt bist du dran.“
Und dann passierte alles gleichzeitig:
Nadine hatte ihr Handy gezückt und sprach hinein: „Ja, Sandra, bis hier in die Kneipe. Holst du mich ab?“
Die Bedienung kam angerannt, mit einem Baseballschläger in der Hand. „Brauchen Sie Hilfe?“
Der kleine Mann wimmerte: „Und dann habe ich mir sämtliche Medikamente ins Bier getan, und du trinkst mir alles weg.“
Der grosse Mann brach zusammen.
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