Luder vor Bruder?
Von: Elisha
Es lag an der Renovierung unserer Räume, dass wir zusammentrafen. Meine Kollegen und ich waren ausquartiert worden und arbeiteten in aufgestellten Containern vor einem anderen Teil des grossen Gebäudes. „Nur für kurze Zeit“, hatte man uns versichert, als wir provisorisch unsere neuen Räume bezogen.
Mittlerweile hatte ich die Weihnachtsdekoration abgenommen und alles mit glitzernden Schneebällen aus Styropor und Eiskristallen aus durchscheinendem Plastik auf Winter dekoriert. Und ich hatte auch nicht viel Hoffnung, die folgenden Häschen und Lämmchen wieder in meinem alten Büro aufzustellen.
Das Gute an unserer neuen Arbeitsstätte war die Nähe der Kantine, die wir sonst immer gemieden hatten. Jetzt gingen wir fast jeden Mittag zusammen zum Essen, ein Highlight des Arbeitstages. Bei unserem Zusammentreffen war ein nieselnder Schneeregen auf uns herabgerieselt. Und da sah ich sie, mit kleinen Flöckchen auf Haar und Jacke.
„Christiane?“, fragte ich ungläubig und starrte eine grosse Frau mit lockigem, braunen Haar an.
„Manuela!“ Begeisterung klang in ihrer Stimme.
„Das ist meine alte Schulfreundin“, erklärte ich Jens und Eduard, „und wir haben uns …“ Ich überschlug im Kopf die Zeit. „Wie lange ist das her?“
„Dreissig Jahre?“, schlug sie vor, und ich errötete. Ich kam mir plötzlich uralt vor. „Na ja, nicht ganz!“, sagte ich zu meinen Kollegen gewandt.
Natürlich assen wir alle gemeinsam und versuchten, uns ein Update unserer Lebensentwürfe zu verschaffen.
„Vier Kinder?“ Sie schüttelte erstaunt den Kopf. „Und immer gearbeitet?“
„Natürlich gearbeitet, aber ich bin nicht immer bezahlt worden.“ Ich grinste, als sie einen Augenblick brauchte, um das zu verstehen. „Hier bin ich erst, seit sie aus dem Gröbsten raus sind. Das sind aber auch schon wieder …“ Zum zweiten Mal an diesem Tag war ich unsicher.
„Na, sechs Jahre bist du doch schon in deiner Stelle“, half Jens aus.
„Dass wir uns nie über den Weg gelaufen sind!“ Christiane schüttelte den Kopf. „Das sollten wir feiern. Habt ihr heute Abend Zeit?“
In unserer Clique hatten wir den Ton angegeben. Egal, wer gerade der Partner an unserer Seite war, hatten wir, die Amazone und das zierliche Püppchen, immer Ideen eingebracht, was wir wann unternehmen wollten, und alle hatten mitgemacht. Inzwischen hatten wir beide Gewicht zugelegt, wobei es bei Christianes Grösse unauffälliger war.
Und plötzlich war es wie früher. Meine Kollegen telefonierten kurz, und das abendliche Treffen in der Kneipe war verabredet.
„Und du hast nie geheiratet?“
„Ich war nie lange genug gebunden, um in Gefahr zu geraten.“ Christiane lächelte geheimnisvoll.
Jens trank ihr zu. „Prost!“ Er sah ihr in die Augen, und Eduard stiess mir mit dem Ellenbogen in die Rippen.
„Komm, Edi, wir haben noch gar nicht angestossen!“ Christiane kicherte, und die Gläser klirrten. Dann legte sie den Arm um mich und küsste mir auf die Wange. Ein warmes Gefühl!
Ich konnte gar nicht verstehen, wie wir uns aus den Augen verloren hatten. Es war so leicht mit ihr, so angenehm. In der Schulzeit hatten wir uns fast täglich in der Freizeit getroffen, aber dann gab es für alle unterschiedliche Pläne: einige wollten eine Ausbildung beginnen, andere in Basel oder in Zürich studieren. Zunächst waren wir noch vereinzelt an Wochenenden zusammen gekommen, aber die Abstände dazwischen waren immer grösser geworden. Und dann hatte es plötzlich ganz aufgehört.
„Wie geht es denn Manni?“, fragte Christiane unvermittelt.
Natürlich, mein Bruder hatte ja auch zur Clique gehört. „Och ja, ganz gut. Er ist geschieden.“
„Ach ja?“ Ihr Ton klang schnippisch.
Ich merkte, wie etwas an mir nagte, aber noch blieb es diffus. Es hatte was mit damals zu tun, aber ich konnte mich nicht erinnern. Christiane und meine Kollegen waren etwas entfernt schon bei einem ganz anderen Thema, aber ich kramte in meinen Erinnerungen.
„Wie war das noch damals?“, fragte ich zögernd. „Warst du nicht auch mal mit Manni zusammen?“
„Nur ganz kurz.“
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.
Und dann fiel es mir wieder ein. Wie so oft vorher, hatte es auch bei Manni dieselbe Dramaturgie gegeben: Zunächst ihr Interesse und seine Faszination. Aber je mehr er sich verliebte, desto gelangweilter reagierte sie. Schliesslich hatte sie sich getrennt, und er hatte sich bei mir ausgeweint.
„Was hast du getan?“
„Wieso schreist du mich so an?“ Entsetzen in ihrer Stimme. „Wir sind doch Freundinnen!“
„Aber Manni leidet!“
„Du darfst doch keinen Mann zwischen uns lassen!“ Jetzt hatte auch sie Tränen in den Augen, und meine Gefühle waren in der Klemme gewesen.
Ich sah zu den dreien hinüber, die Blicke der Männer hingen an Christianes Lippen. Doch sie drehte den Kopf und winkte mir zu.
„Komm, Manuela, du verpasst ja alles!“
„Das glaube ich nicht.“ Ich grinste sie an. „Aber keine Sorge, ich bin schon bei euch!“
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