Noch nicht zu spät?
Von: Elisha
Es war angenehm auf der Terrasse des Restaurants, und alle jauchzten, als der Kellner mit einem Küchlein kam, in dessen Mitte eine einzelne angezündete Kerze steckte. „Wir haben noch gar nicht gesungen“, kreischte Tanja, und ein herzliches „Zum Geburtstag viel Glück“ wurde mit unterschiedlichen Stimmen in mehreren Tonarten angestimmt, die sich nur langsam und allmählich zu einer einheitlicheren Version entwickelte.
„Nicht schön, aber laut“, sagte Ruben und lachte.
„Singen ist nicht unsere Kernkompetenz“, erwiderte Maik und zuckte mit den Schultern. „Aber schön, hier sein zu können. Danke für die Einladung.“
Tanja betrachtete die Gruppe, die um den Tisch herum sass und dem Geburtstagskind zuprostete. Alle, die ihnen am Herzen lagen, waren da: ehemalige Schulfreunde, Lieblingskollegen, befreundete Paare. Menschen, mit denen sie sich wohl fühlten, und hier draussen an dem lauen Sommerabend war es endlich wieder möglich. Endlich mal kein Gedanke an Ansteckungsgefahr in engen Räumen, endlich mal nur der Genuss des Zusammenseins.
Früher, vor drei Jahren, wäre noch Stefanie dabei gewesen. Ein Stich zuckte Tanja durch die Brust, als sie an die Zeit vor ihrer Hochzeit dachte. Sie hatte sich so wohl gefühlt mit der Kindergarten-Freundin ihres Mannes, hatte sie frei von Eifersucht auch zu ihrer Freundin erkoren und mit in die Vorbereitungen einbezogen. Schliesslich kannte Steffi ihn ja viel länger, wusste besser, welcher Farbton und welches Lied Ruben gefallen würde.
Sie war so froh gewesen über die Ersatz-Schwester, dass sie vereinzelte Bemerkungen übersehen oder gar nicht wahr genommen hatte. Bis Leila, ihre beste Freundin, sie in empörtem Ton darauf aufmerksam machte:
„Findest du es nicht seltsam, dass Stefanie immer nur im Konjunktiv von eurer Hochzeit spricht? Als würde sie gar nicht davon ausgehen, dass ihr euch wirklich das Ja-Wort gebt.“
„Ich glaube, sie spricht so aus Aberglauben“, meinte Tanja und kicherte.
„Aber heute sagte sie: Wenn wir verheiratet sind, als wäre sie die Braut“, fuhr Leila fort. „ich glaube nicht, dass das ein Versprecher war.“
„Kann es sein, dass Steffi Probleme mit unserer Heirat hat?“, fragte Tanja an demselben Abend Ruben. Der kratzte sich am Kopf und stammelte herum, bis er endlich einen ganzen Satz herausbrachte: „Ich fürchte, ja! Ich wollte das schon ansprechen, aber ihr hängt ja immer so zusammen.“
„Was meinst du?“ Tanjas Stimme wurde schrill vor Aufregung. „Was sollte sie dagegen haben? Sie verliert dich doch nicht.“
„Sie sagt, dass sie Gefühle für mich entwickelt hat und hat mich gebeten …“
„… und hat dich gebeten zu warten?“
„Nein, sie zu heiraten!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe sie von der Hochzeit ausgeladen.“
Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Und jetzt plötzlich, wie auf ein Stichwort erklang ihre Stimme: „Happy Birthday!“
Tatsächlich stand sie neben Ruben und strahlte ihn an. „So ein Zufall! Ich wollte mir hier Essen bestellen, und da habe ich euch singen hören und wollte wenigstens gratulieren.“
Tanja fühlte sich überrumpelt, Ruben anscheinend auch. Ungläubig hörte Tanja ihn sagen: „Willst du dich zu uns setzen?“
„Du kannst meinen Platz haben, ich gehe nach Hause.“ Ohne zu überlegen drehte sie sich um und verschwand.
„Du hast meinen Geburtstag verdorben“, sagte Ruben, als er in die Wohnung kam. „Ohne dich war die Stimmung hin.“
„Wie konntest du sie nur ermutigen?“, fragte Tanja und wischte sich die Tränen ab. „Wir wollten doch keinen Kontakt mehr.“
„Ich dachte, nach drei Jahren … Wo es doch klar ist, dass wir zusammen gehören! Vielleicht sollte es eine Art Entschuldigung sein.“
Tanja schüttelte den Kopf. „Ich kann ihr nicht mehr vertrauen, glaube ich.“
Sie nahm ihren Mann von hinten in die Arme. „Ich möchte sie nicht mehr in unserem Leben haben.“
Sein Handy summte, und er wand sich aus ihrer Umarmung. Anscheinend war er noch sauer.
Tanja setzte sich wieder auf das Sofa, während er im Flur an seinem Telefon nestelte. Sie überlegte. Vielleicht hatte sie überreagiert, vielleicht sollte sie Stefanie eine zweite Chance geben. Schliesslich kannten sie sich seit Ewigkeiten, und Ruben zuliebe … Ein lautes Fluchen riss sie aus den Gedanken.
„Sie lebt in einer anderen Welt“, sagte er mit grimmigem Gesicht und spielte vor Tanja noch einmal die erhaltene Sprachnachricht ab.
„Bestimmt hast du mich durchschaut, dass ich absichtlich zu deiner Feier gekommen bin“, hörte sie Stefanies schmeichelnde Stimme. „Und dein Zeichen, mich einzuladen, habe ich verstanden. Keine Angst, es ist noch nicht zu spät für uns.“
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