Ein schwieriger Mensch
Von: Elisha
Ich habe jetzt schon sechs Jahre hier gewohnt, seit Beginn meines Studiums. Ich war also schon von Anfang an mit dabei, gehörte zur ersten Generation der Mieter, der einzige von unserer Etage. Sechs Jahre also, und ich muss sagen, dass davon nicht ein einziges ruhig und friedlich war. In einem Studentenwohnheim werden so viele Menschen zusammen gewürfelt; die unmöglichsten Leute kommen dahin.
„Ich bin die erste....“ (Foto: Wolfgang Dirscherl / pixelio.de)
Die schlimmste davon war diese Bärbel. Sie schneite eines Morgens in unsere Küche, obwohl sie gar nicht auf unserer Etage wohnte, nur ihr Freund. Sie war also plötzlich da und zwitscherte herum wie ein junger Vogel am frühen Morgen. Nicht nur mit ihrem Wolli, nein, auch Pierre und Micha verwickelte sie in ein Gespräch, und irgendwann stellte sie auch mir einige Fragen. Auch am nächsten Tag war sie da, und den Tag danach, und immer ihr Plappern mit all den Leuten. Und das Seltsame war: Keiner wies sie zurecht, niemand befahl ihr, mal den Mund zu halten, sondern alle redeten und lachten und schienen sich zu amüsieren.
In einer Nacht hatte ich einmal einen Traum: Ich kam in die Küche, und auf allen Tischen standen Frauen aufgereiht. Alle sahen aus wie Bärbel. Und sie lachten und schwatzten, stiessen sich an und winkten mir dann zu. Ich stand da und konnte mich nicht rühren – und erwachte von dem gellenden Gelächter.
Am Tag darauf sass nur Wolli in der Küche, und ich setzte mich an meinen Platz, schlug die Zeitung auf und genoss die morgendliche Stille. Dann kamen die anderen; erst Pierre, dann Micha, dann Mahmut, und jedes Mal gab es dieselbe Zeremonie: Sie kamen herein, sahen sich in der Küche um, gingen auf Wolli zu und fragten: “Na, wo ist denn Bärbel heute?” Und Wolli antwortete: “Schon weg. An der Uni.” Als dann auch noch Gerti, die einzige Frau von unserer Etage, hereinkam und Wolli zurief: “Kannst du mal Bärbel fragen, ob sie mir das Strickmuster leiht?”, hatte ich genug. Wie konnte sich eine einzige Frau, dabei auch mit einer so grossen Klappe, in so kurzer Zeit auf unserer Etage einnisten? Das roch ja nach Verschwörung! Dem musste Einhalt geboten werden.
Die Gelegenheit bot sich am Nachmittag, als Bärbel und Wolli ein Kaffeetrinken vorbereiteten, zu dem sie die Etagenbewohner mit einem Aushang eingeladen hatten. Wolli hatte den Kuchen schon aus dem Kühlschrank genommen und war auf dem Weg zu seinem Zimmer, und Bärbel stand in der Küche und wartete darauf, dass der Kaffee durch den Filter lief.
“Ah, Thorben!”, begrüsste sie mich. ”Kommst du auch gleich?”
“Nein, ich komme nicht, und eigentlich würde es mich nur interessieren, was du hier machst.”
“K-Kaffee kochen”, stotterte sie und sah mich verwundert an.
“Warum hier, in unserer Küche? Du wohnst doch auf der Zweiten, warum gehst du nicht runter und kochst deinen Kaffee dort?”
“Unsere Küche ist doch so klein, da haben nur drei Leute Platz. - Stört es dich denn?” Und sie sah mich wieder mit ihren grossen Augen unschuldsvoll an, ganz erstaunt, so dass ich für einen Moment vergass, was ich sagen wollte. Doch dann hatte ich mich wieder gefangen und sagte gereizt:
“Ob es mich stört? Ja natürlich! Mich stört, dass du dich hier in der Küche breit machst, obwohl du gar nicht zu uns gehörst, dass du hier raus- und reingehst, als wärest du der Etagenälteste und dass du keinen Augenblick aufhören kannst zu quasseln!” Und da sie nur dastand und nichts sagte, nur verständnislos schaute, als wäre ich ein Wahnsinniger, begann ich zu schreien:
“Geh runter zur Zweiten! Lass uns in Ruhe, hörst du? Ich will meine Ruhe haben!”
Sie schluckte, und ich dachte: Jetzt fängt sie auch noch an zu flennen! Doch dann stammelte sie:
“Wenn es dich so stört … Ich wusste ja nicht ...” Bevor die Tränen doch noch durchbrachen, stürzte sie aus der Küche.
“So nicht, Thorben, jetzt reicht es!”, kam eine Stimme von der Tür, und ich sah Wolli, der anscheinend einen Teil des Gesprächs mitgehört hatte. “Du hast ja schon oft Ärger gemacht; mit wem hattest du eigentlich keinen Krach? - Aber damit das klar ist: die anderen mögen Bärbel alle und freuen sich, dass ein bisschen mehr Gemeinschaft praktiziert wird. Wenn du es nicht haben kannst, wenn alle fröhlich miteinander sind, ist das dein Problem. Da kann Bärbel nichts dafür. Sie wird sowieso in das nächste freie Zimmer hier oben ziehen, doch auch bis dahin lässt du sie in Ruhe, auch wenn das deinem engen Juristenhirn querläuft. Klar?”
Zum Glück ist es dann doch anders gekommen. Die beiden sind gleichzeitig auf eine andere Etage gezogen, und Pierre und Micha zogen dann einige Zeit später auch aus. Aber auch bis dahin war es einigermassen erträglich: Bärbel war nicht mehr so oft bei uns, und obwohl sie auch weiterhin Geschichten erzählte, war sie doch nicht mehr dieselbe wie vorher. Und bei jedem zufälligen Blickkontakt mit mir spürte ich, wie sie kurz zusammen zuckte, als würde ihr ins Fleisch geschnitten.
Ich habe nie verstanden, was sie eigentlich wollte und war nur froh, als sie weg war. Hin und wieder habe ich auch von ihr geträumt, von ihren grossen Augen. - Wie gesagt, in einem Studentenwohnheim leben so viele Menschen; die unmöglichsten Leute kommen da zusammen.
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