Jolene ist tot
Von: Elisha
Als ich sie so daliegen sehe, versuche ich, in ihr die Schönheit von damals zu erkennen. Ihre Haut ist immer noch blass wie Elfenbein, aber das liegt natürlich an dem Blutmangel. Die rostbraunen Locken umrahmen ihr Gesicht, dickes, wunderschönes Haar. Aber oben auf dem Schädel hebt sich der Ansatz in einem grauen Streifen von dem Rest des Schopfes ab. Ich gehe um den Körper herum und sehe in die smaragdgrünen Augen, die starr auf die Mauer gegenüber gerichtet sind. Das unten liegende Auge ist mit Blut gefüllt und halb geschlossen, und dunkle Spuren von Wimperntusche umrahmen es. Oder ist es der Dreck der Strasse, auf der sie liegt?
Ich zittere etwas. Sie ist nicht die erste Leiche, die ich sehe, aber ich verfüge noch nicht über die Abgebrühtheit meiner Kollegen. Und schon gar nicht, seit sie die Handtasche mit den Papieren gefunden haben, und ich ihren Namen gehört habe. Jolene Schmidt. Ich kannte damals nur ihren Vornamen, weiss nicht, ob sie zu der Zeit schon so einen Allerweltsnamen hatte oder irgendeinen Kerl geheiratet hat. Nicht meinen, das zumindest habe ich erreicht.
Damals wollte ich sie unbedingt treffen. Ich wäre auch in die Bank gegangen, in der sie arbeitete, aber das lehnte sie ab. Sie hatte vermutlich Angst vor einem Skandal, einem laut kreischenden Weib, das ihr dort eine Szene machen wollte.
„Ich will nur mit dir reden“, versicherte ich ihr und schlug das Café vor, in dem sie sich einmal in der Woche einen Milchkaffee und ein Stück Schokoladentorte gönnte.
„Komm lieber später in die Eckkneipe“, sagte sie schlicht am Telefon.
Ich war früher als sie da, setzte mich auf einen der hohen Hocker an die Theke und bestellte mir eine Cola. Ich bemerkte vereinzelte Blicke der Männer an den Tischen, die trotz des frühen Abends schon reichlich Alkohol getrunken hatten. Und dann kam sie, stattlich, mit schwingendem Schritt, löste langsam ihr Stirnband und schüttelte ihre Locken, und keiner sah mehr mich an. Alle Blicke hingen an ihr, folgten jeder ihrer Bewegungen, auch mein Blick. Ich verstand es, dass Männer sie begehrten, denn sie war nicht nur makellos, sondern bewegte sich mit einer Eleganz wie eine Tänzerin, die ihren Körper liebevoll bewohnt.
Sie baute sich zunächst vor mir auf, abwartend, vorsichtig, doch bei meinem Anblick schien sie keine Gefahr zu wittern.
„Er spricht von dir“, sagte ich leise, und eine Träne schlüpfte aus meinem Auge, „er murmelt deinen Namen im Schlaf.“
Sie schaute verlegen zur Seite.
„Bitte, lass ihn mir“, sprach ich weiter. „Es ist kein Wettkampf, Jolene, ich hätte nie eine Chance, so schön, wie du bist!“ Ich sah kurz in die Runde der gaffenden Männer. „Bitte, nimm ihn mir nicht weg, nur weil du das kannst!“
Sie sagte nichts, blies sich nur eine Ponysträhne aus dem Gesicht.
„Vielleicht ist alles für dich ein Spiel, aber für mich ist es der Mann, den ich liebe, mit dem ich mein Leben teilen will.“
Mir strömten Tränen aus den Augen. „Ein Teil von ihm gehört schon dir.“
„Und dann willst du ihn immer noch?“, fragte sie bloss.
Ich nickte, drehte mich um und ging.
Regen zieht auf, und wir haben alle Hände voll zu tun, die Fundstelle zu sichern. Stellen werden markiert, Fotos geschossen, Fussspuren konserviert. Endlich gibt der Arzt die Leiche frei, und zwei Männer hieven sie in einen Zinnsarg.
„Nun liegt es an uns, den Mörder zu finden“, sagt mein Kollege und steckt sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. „Abservierter Liebhaber vielleicht. Willst du auch eins?“
„Oder Mörderin!“ Ich greife zu bei dem angebotenen Streifen. „Mord aus Eifersucht könnte ich mir auch vorstellen.“ Meine Stimme klingt traurig.
„Und dann willst du ihn immer noch?“, höre ich sie im Geist fragen.
Nach Jahren habe ich gemerkt, dass es schon zu spät gewesen war.
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