Äquinoktium
Von: Elisha
Liane hatte sich für den Abend gegen Fernsehen entschieden und gemütlich in ihrem Sessel unter der Wolldecke bei der Tischlampe mit dem warmen Licht verbracht. Den Roman hatte sie fast ausgelesen, und sie fragte sich gerade noch, was auf den letzten Seiten noch passieren sollte. Das Haupträtsel war gelöst, und die Heldin hatte sich von ihrem unwürdigen Partner getrennt und sich stattdessen in einen kleinen Hund verliebt. Alles auserzählt sozusagen.
Mit einem herzhaften Gähnen nahm sich Liane die Brille ab, die ihr seit einiger Zeit das Lesen erleichterte, und sie rieb sich die Nasenflügel mit Daumen und Zeigefinger. Zeit ins Bett zu gehen! Nur eines hatte sie sich noch vorgenommen, bevor sie mit Abschminkcreme und Zahnbürste hantieren wollte.
Etwas widerwillig sah sie zu dem Tisch hinüber, der im Erker zwischen den beiden Fenstern aufgestellt war. Dort auf der Oberfläche prangten noch Muscheln und leuchtend blaue Steine, die das Meer symbolisierten, zusammen mit einem Strandkorb, einem Leuchtturm und einer Badenixe, die mit Möwen und Fischen in der See schwamm. Passend zum Sommer, aber der war ja jetzt vorbei.
Schon gestern hatte sie den Karton für die nächste Jahreszeit vom Dachboden gekramt, und so gern sie den Sommer festgehalten hätte, war sie nun neugierig auf das, was der Herbst ihr bringen würde. Sie freute sich auf den Kranz mit leuchtend bunten Blättern, hatte schon Kastanien, Nüsse und Buchennüsschen gesammelt und in einem Schälchen Moos ausgelegt. Ein Igel aus Keramik und ein hölzernes Eichhörnchen würden die Dekoration abrunden.
Aber sie fühlte sich müde, hatte keine Lust, sich aus dem mit dem flauschigen Fell gepolsterten Sessel zu bewegen. Zur Ablenkung griff sie nach dem Handy und freute sich. Vera war online. Sie wählte ihre Nummer für einen Videoanruf.
„Hallo Cousine“, sagte sie fröhlich.
„Guten Morgen“, kam eine verschlafene Antwort. Vera wuschelte sich mit der Hand durch die Locken, die vom Wind immer wieder in die Stirn geweht wurden.
„Du bist ja draussen!“ Liane besah sich die Gegend um Vera herum, hielt es für den Gemüsegarten.
„Ja, heute ist es nicht mehr ganz so kalt, da wollte ich mal die Vögel hören. Hörst du sie auch?“ Sie wickelte sich ein Tuch enger um den Hals.
„Ja. Klingt wie Frühling!“
„Es ist Frühling.“ Sie lachte.
Das war immer merkwürdig. Natürlich wusste Liane, dass auf der Südhalbkugel die Jahreszeiten genau entgegengesetzt verliefen. Aber erst seit Vera nach Tasmanien gezogen war, konnte Liane es hautnah miterleben. Nicht nur die Bilder und Geschichten, sondern die kleinen Begebenheiten bei ihren Anrufen liessen sie fühlen, dass dort zeitgleich eine ganz andere Realität existierte, die sie sonst nur abstrakt gedacht hatte.
Besonders deutlich war es bei der Sonnenwende gewesen. Liane hatte das Fest in ihrem Urlaub in Schweden gefeiert, mit Blumenkranz und langem, dünnen Kleid, und am nächsten Tag hatte sie Vera ein Bild von ihren nackten Beinen im See geschickt, verschwitzt, mit Sonnenbrand, in ausgelassener Stimmung. Vera hatte sich revanchiert mit einem Foto von einem gefrorenen Wasserfall und erleichtert geschrieben: „Die längste Nacht ist vorbei. Das Licht kommt zurück.“ Als wäre es Weihnachten gewesen.
Inzwischen war Vera wieder ins Haus gegangen und schüttete sich klimpernd einen Becher voll mit Kaffee. „So, damit ich richtig wach werde.“
Liane winkte mit ihrer Teetasse: „Das ist mein Schlummertrunk. Ich gehe gleich schlafen.“
„Wir können auch heute Abend nochmal reden. Ich rufe dich an.“ Sie winkte.
„Gern, wobei das natürlich für mich morgen ist.“ Liane grinste. „Morgen Morgen, sozusagen.“
Nach dem Anruf blieb Liane noch kurz sitzen und sah wieder hinüber zu ihrem Tischchen. „Kann ich auch morgen noch dekorieren“, sagte sie zu sich und trank den letzten Schluck Tee aus der Tasse. „Dann kann der Herbst kommen. Ich bin bereit.“
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