Eigentlich mache ich das ja nicht
Von: Elisha
„Immer dieser Regen, Pia!“, hatte Luigina schon am Telefon geklagt. „Durch Corona fällt so viel weg, was man sonst machen könnte. Und wenn ich dann wenigstens spazieren gehen will, plästert es.“ Sie klang wirklich niedergeschlagen, und ich fragte mich, warum ich mich besser fühlte. Auch mir hatte schon mehrfach ein plötzlich einsetzender Guss meine Pläne durchkreuzt, auch wenn ich im Garten mit Regenjacke und Gummistiefeln dagegen angegangen war.
Vielleicht war es ja auch dieser feine Film winziger Tröpfchen, der immer wieder stundenlang vom Himmel kam, der ihre Laune niederdrückte. Bei mir hatte das gleichmässige Tep-tep-tep, das vor meinem Fenster auf das Vordach fiel, eher eine meditative Stimmung ausgelöst, ein leiser Rhythmus im Hintergrund, in den ich mich einschwingen konnte. Dazu kam der Gedanke, wie gut der trockene Boden das Wasser gebrauchen konnte und wie begierig die Wurzeln die Flüssigkeit aufsaugen würden.
„Lasst uns die nächste Regenpause nutzen“, hatte ich vorgeschlagen und ihr die Ergebnisse meiner Wetter- App aufgezählt. Schliesslich hatten wir uns auf eine Uhrzeit und als Treffpunkt auf die riesige Kastanie im Park geeinigt. „Dann ist die Regenwahrscheinlichkeit unter zehn Prozent, das sollte hinhauen“, hatte ich ihr versichert.
Es klappte. Eigentlich berühre ich in der Pandemie keine Menschen ausserhalb meines Haushalts, aber sie wirkte so zerbrechlich, so bedürftig! Wie auf ein Kommando hielten wir die Luft an und drückten uns aneinander. Kurz nur, aber lange genug, um ein Gefühl füreinander aufzufrischen. Was hatte mir das gefehlt!
Wir gingen wieder auf Abstand und schlenderten den Weg entlang. Innerhalb weniger Tage hatten sich die ersten zarten Triebe der Bäume und Sträucher um uns herum in saftiges Grün verwandelt, und ein Tirilieren unterschiedlichster Vogelstimmen begleitete uns. Auch Luigina hob den Kopf und blieb dann stehen, konnte sich anscheinend nicht satt sehen und hören.
„Wie sehr ich das gebraucht habe!“, seufzte sie. „Dabei geht es mir doch gut. Meine Pflichten kann ich jeden Tag abarbeiten. Aber das ist es dann meistens schon.“
„Ich dachte auch, dass ich mich gut angepasst habe. Es ist ja auch nicht so, dass mir ständig bewusst ist, was mir alles fehlt. Aber ich träume nachts mittlerweile von Konzerten, vom Gang durch ein Museum oder immer wieder vom Schwimmen im Hallenbad.“
Wir erreichten den kleinen Teich und folgten der Biegung des Weges um seine untere Flanke. Beim letzten Gang war der Wasserspiegel so niedrig gewesen, dass eine Halbinsel aus Schlick herausgeragt hatte. Jetzt war sie wieder mit einer Lache bedeckt, und Teichhühner gründelten geschäftig. Zwei buntschillernde Erpel schwammen von Ort zu Ort, gemeinsam wie ein Paar.
„Männerfreundschaft!“, flüsterte Luigina und grinste.
Im Gras am Ufer entdeckten wir das Gänsepaar mit den Jungen. Aus den gelben Federbällchen waren inzwischen sechs halbwüchsige Jungvögel geworden, noch mit grauem Flaum bedeckt. Eine der erwachsenen stiess einen grollenden Ton aus zur Warnung. Beide Eltern musterten uns streng, aber wir durften passieren.
„Keine Sorge! Wir schauen nur!“, sprach Luigina einen der Wächter an.
„Hauptsache, wir haben keinen Hund dabei, glaube ich.“ Die Tiere rupften Stückchen von den Halmen ab und fiebten vor sich hin.
„Ach, sind die süss“, seufzte Luigina und ging nur langsam weiter.
„Komm, wir setzen uns auf die Bank, dann können wir noch etwas zusehen.“
Kaum liessen wir uns nieder, kamen alle aufgeregt angerannt, die grauen Gössel und auch die erwachsenen Gänse stürmten auf uns zu.
„Mist, die sind angefüttert worden“, dämmerte es mir. „Anscheinend hatten sie gelernt, dass sie hier etwas zum Fressen bekamen.“
„Die wollen Futter!“, rief jetzt auch meine Freundin aus, während uns die Tiere mit geöffneten Schnäbeln und lautem Getöse umringten. „Aber wir haben doch nichts!“
Natürlich hatten wir kein Futter mitgenommen. Schon vor Jahren hatte ich gelesen, dass das in Massen verfütterte Brot für Vögel und Wasserqualität schädlich sei. Luigina suchte trotzdem sämtliche Jackentaschen ab, aufgefordert und begleitet durch das Piepen der Vögel. Schliesslich zog sie mit einem unterdrückten Triumpflaut einen halben Keks aus dem Gewebe. Sie zerbröselte ihn in winzige Krümel, die sie auf die Schar verteilte. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Mir lag ein Kommentar auf der Zunge, aber ich schluckte meine Kritik herunter.
„Eigentlich mache ich das ja nicht“, schniefte meine Freundin, als wir aufstanden, um weiter zu gehen, „aber das hat gerade wirklich gut getan.“
Als wir wieder an der stämmigen Kastanie ankamen, hing eine schwere, graue Wolke darüber.
„Die Regenpause haben wir gut genutzt“, meinte Luigina und strahlte mich an. „Jetzt bin ich gerüstet, um gut durch den Tag zu kommen.“
Noch einmal hielten wir die Luft an und drückten uns. Obwohl ich das ja eigentlich nicht mache.
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