In Verbindung
Von: Elisha
An guten Tagen fühlt sich alles so leicht an. Ein Wagen hält an und nimmt mich mit, und der Fahrer freut sich über die Unterhaltung auf langer Strecke. Viele Fragen, und ich packe meine Geschichten aus, alle am eigenen Leib erlebt, vielleicht nicht genau so, aber ein bisschen Dramatik würzt alles, macht es unterhaltsam und spannend. Das ist der Deal, und wie der Fahrer empfinde ich mich als Bereicherung, nicht als Last oder Zumutung.
Heute ist ein schlechter Tag. Der Himmel hängt schwer mit dicken Wolken, milchig-trüb bis grau, als wenn die Sonne sich weigert, herauszukommen. Dabei ist es erst Anfang September, fast noch Sommer. Die schwere Zeit mit Kälte und Dunkelheit steht noch bevor. Ein ständiger Nieselregen hat die Steine feucht und glänzend gemacht, und ich bin dankbar über das Glockengeläut, das mich für eine Stunde ins Trockene führt.
Sonntag ist heute? Das hatte ich nicht parat. Ich fahre mit der Hand über die Stoppeln auf meinem Kinn, wie immer, wenn mich ein Gedanke erschreckt. Vagabunden wie ich horten Informationen, sonst ist das Leben auf der Strasse nicht durchführbar. Wir sind darauf angewiesen, dass wir Bescheid wissen, besonders in neuen Städten.
Ich sitze auf einer der hinteren Bänke, und nur wenige Menschen sind gekommen. Wer will auch schon durch den Regen gehen? Schweigend lasse ich das Schauspiel auf mich wirken, den Priester im farbigen Gewand, seine begrüssenden Worte, die Töne aus der Orgel über mir. Es geht mich nichts an, passiert einfach, während ich das Dach über dem Kopf und die Wände gegen den Wind geniesse. Vielleicht springen ja noch ein paar Münzen für mich heraus, wenn ich den Klingelbeutel geschickt weitergebe.
Eine Frau in der ersten Reihe fällt mir auf. Sie scheint wirklich mit Aufmerksamkeit dabei zu sein, singt das erste Lied mit kräftiger Stimme mit. In meiner Brust fühle ich einen Stich. Warum muss sie mich auch an Anne erinnern? Anne war jung und stark, hatte keine grauen Haare und keinen Rollator neben sich stehen. Aber etwas in ihrer Art, sich zu bewegen, da zu sein in diesem Augenblick, hat mich berührt.
Mit Anne gab es nur gute Tage. Egal, wo wir waren oder wie das Wetter war. Ich denke an die Landstrasse, die durch den Regen immer mehr im Schlamm versank. Anne und ich hatten einen Parka über uns wie eine Zeltplane gespannt, doch nasse Strähnen klebten ihr auf der Stirn. Sie lachte und küsste mich, und ich wusste, dass ich nie wieder so lieben würde wie in diesem Augenblick.
Meine Wange wird feucht. Jetzt nicht auch noch heulen! Ich sehe mich verschreckt um, aber keiner beachtet mich. Dafür habe ich mir den Platz ja auch hier hinten ausgesucht. Alles um mich herum geht weiter, Worte, Töne, dazu der seltsame Geruch in meiner Nase. Habe ich nicht auch mit Anne mal einen Gottesdienst genutzt, und dann diese unsinnige Frage gestellt:
„Wie wäre es, wenn wir heiraten?“►
„Du spinnst!“, hat sie geantwortet. „Dir ist der Weihrauch zu Kopf gestiegen.“
„Klar!“ habe ich gesagt und gelacht und einen bösen Blick vom Priester eingefangen.
Später haben wir dann auf einem Felsen gesessen und uns ein Brot geteilt.►
„Die Frage ist doch nicht, ob wir heiraten. Wärest du bereit, an einem Ort zu bleiben?“
„Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun“, habe ich eingeworfen, und sie hat genickt, als hätte sie meine Antwort vorausgesehen. „Siehst du?“
Aber ich habe nichts gesehen, und so kam es überraschend, als sie plötzlich zurück blieb.
Einen Job als Servierkraft und ein eigenes Zimmer waren das, was sie eintauschte.
„Hier wird immer ein Schlafplatz für dich sein“, sagte sie und küsste mich zum Abschied. „Bleib in Verbindung!“
Das ist so lange her. So viele Sommer, bei denen ich durch ganz Europa gereist bin, die schönsten Strände und interessantesten Städte gesehen habe. Und so viele Winter. Den Platz zum Schlafen habe ich nie aufgesucht. Und wer weiss, wo sie jetzt ist, wie sie ihr Leben gelebt hat.
Die Glocken läuten, es ist fast zu Ende. Als ich die Kirche verlasse, sind zumindest die Steine draussen getrocknet. Zwischen zwei Wolken kann ich ein Stück blauen Himmels erahnen. Vielleicht kommt ja doch noch die Sonne durch! Und wer weiss, ob ein Fahrer Unterhaltung braucht. Ich stehe gern zur Verfügung mit meinen Geschichten.
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