Tradition
Von: Elisha
Beinahe hätte Wilhelm das Traditionstreffen verpasst. Zum Glück hatte seine Frau auf den Kalender geguckt und halbspöttisch gefragt: „Es ist bald Nikolaustag. Siehst du nicht am Abend vorher deine Weihnachtswichtel?“ Damit meinte sie Edgar, Friedrich und Herbert, die Freunde aus seiner Jugend. Inzwischen hatte das Leben sie über die ganze Schweiz verteilt, und nur alle paar Jahre trafen sie sich im Ort.
Wilhelm konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie als junge Männer die Strassen unsicher machten und Pläne schmiedeten, was sie mit diesem besonderen Abend vor dem Nikolaustag anfangen sollten.
„Wo wollen wir hin?“, hatte Edgar gefragt und sich seine gelglänzende Tolle aus dem Gesicht gestrichen.
Wilhelm hatte mit grosser Geste die Sonnenbrille abgenommen und in das Revers seiner Lederjacke geschoben, bevor er mit vieldeutigem Ton vorschlug: „Gehen wir doch in den Gasthof Ohmayer.“
„Was dort trinken?“, fragte Friedrich enttäuscht.
„Nicht nur! Da gibt es eine Kellnerin, bildhübsch, die beugt sich immer zu dir herunter.“ Wilhelm deutete die Bewegung an. „Da kannst du ihr wer weiss wohin gucken.“
Sofort waren alle einverstanden.
Beim nächsten Treffen Jahre später überlegten sie wieder, wo sie den Abend verbringen sollten. Wilhelm wohnte weiterhin im Ort, und so lag es wieder an ihm, einen guten Vorschlag zu machen.
„Ich kenne ein gutes Restaurant, bei dem man gediegen essen kann. Gar nicht so teuer, und die Weinkarte hat für euch alle was dabei.“
„Auch den Wein, den wir deinen Eltern mal aus dem Keller geklaut haben?“, fragte Edgar spitzbübisch.
„Aber sicher. Gehen wir zum Gasthof Ohmayer.“
Beim letzten Treffen wurden sie sich nicht einig, wie sie den Abend verbringen sollten. Es gab mehrere Ideen, und alle redeten durcheinander.
„Also kein Club, das ist mir alles zu laut“, maulte Herbert. „Mit meinem Hörgerät kann ich kein Wort verstehen, wenn so Hintergrundgeräusche sind. Da brauche ich gar nicht erst mitzukommen.“
„Na ja“, begann Wilhelm, „wenn du was Ruhiges willst, könnten wir zum Gasthof Ohmayer gehen. Keine Musik, kein Rauch, und zu viele Leute sind da auch nicht.“
Gesagt, getan.
Und heute hatte Edgar vorher angerufen, um von seinem Oberschenkelhalsbruch zu erzählen. Als sie vor dem Haus standen, Edgar mit seinen Krücken, Friedrich mit einem Rollator, war Wilhelm froh, gut gewählt zu haben.
„Wie schön, dass es dort keine Teppiche gibt, über die man stolpern kann! Und zum Glück ist da ja auch ein Aufzug!“ Seine Freunde nickten, nur Herbert stand stumm daneben.
„Bist du nicht damit einverstanden, dass wir in den Gasthof Ohmayer gehen?“, fragte Wilhelm besorgt.
„Gasthof Ohmayer?“ Herberts Augen leuchteten. „Gute Idee, da waren wir ja noch nie.“
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