Der Ladenhüter
Von: Elisha
Ich hatte mich gefreut, als meine Schwester Inge mir die Einladung mitteilte. Endlich hatte sie in dem edlen Restaurant einen Tisch ergattert, reserviert am Abend um 19 Uhr. „Zieh dir was Hübsches an“, hatte sie mir noch geraten, als wenn ich nicht von selbst schon im Geiste meine Kleider betrachtet und das Geblümte mit dem Ausschnitt ausgewählt hätte. „Ich muss vorher mit Foxi raus, aber bis sieben schaffe ich es“, hatte ich ihr zugesichert.
Als ich überpünktlich eintraf, wunderte ich mich darüber, dass nicht nur mein Schwager, sondern auch ein mir fremder Mann mit an dem Tisch sass.
„Das ist Tobias“, stellte Inge ihn mir vor. „Ein Freund von Mark.“
„Ja, wir machen immer Sport zusammen“, fügte mein Schwager hinzu und lachte dröhnend.
Irgendetwas irritierte mich an seiner Körpersprache, aber ich wollte mir unter keinen Umständen diesen besonderen Abend verderben lassen. Ich griff nach der Speisekarte.
„Ich habe gehört, du warst noch mit deinem Hund spazieren?“, fragte der Fremde.
„Ja“, sagte ich, ohne ihn anzusehen. Ich studierte die Gerichte und überlegte, wozu ich Lust hätte. „Habt ihr schon gewählt?“ Ich sah Inge und Mark fragend an.
Sie blickten sich in die Augen, und Inge stammelte: „Schon vor langer Zeit.“ Dann küssten sie sich und lachten.
„Aber noch nicht das Essen“, fügte Mark hinzu. Sie nahmen mir die Speisekarte aus der Hand und legten sie vor sich auf den Tisch. Gemeinsam beugten sie sich darüber.
„Ich werde etwas von der Tageskarte nehmen“, sagte Tobias und deutete auf eine mit Kreide beschriftete Tafel, die am Eingang stand. „Und du?“
Vielleicht wollte er ja nur nett sein, mir nicht das Gefühl geben, überflüssig zu sein. Mir war es aber zu viel. Ich wollte nicht die Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte. Schliesslich kannte ich ihn nicht und hatte auch kein Interesse, daran etwas zu ändern.
Ich wusste, dass meine Familie das anders einschätzte. Sie konnten nicht verstehen, dass ich zufrieden war, wie mein Leben gerade lief. Der neue Job, die Wege mit meinem Hund, gelegentliche Treffen mit Freundinnen von früher reichten mir, und der Alltag mit Foxi an meiner Seite war genau das, was ich mir erträumt hatte. Es fehlte mir nichts.
Die Hochzeit von Inge hatte den Druck der Familie verschärft, und jetzt hatte sich auch noch unser kleiner Bruder auf einer wunderschönen Feier verlobt.
„Du bist die einzige, die auf dem Regal zurück gelassen wurde“, flüsterte mir meine Mutter auf dem Fest mit einem Trauerblick zu. „Dabei hast du doch alles, was du brauchst: du bist hübsch, klug und belesen. Nur kochen musst du noch lernen.“
„Das ist ja erstaunlich, nach welchen Werten du mich einschätzt“, sagte ich etwas patzig. „Und du hast recht: ich habe alles, was ich brauche.“
Auch ich suchte mir ein Gericht von der Tageskarte und bestellte, als die Kellnerin kam.
Mark hatte eine Flasche Rotwein spendiert, die uns wenig später gebracht wurde.
„Kennst du dich mit Weinen aus?“ Wieder dieses bemühte Interesse an meiner Seite.
„Ja. Ich selbst praktiziere ein hohes Wimmern, aber grollendes Schluchzen habe ich auch schon erlebt.“
Alle drei starrten mich an. Dann, ganz langsam, lächelten sie gequält.
Eine Woche nach der Verlobung hatte Inge mich beiseite genommen. „Stehst du vielleicht auf Frauen?“
Ich überlegte, ob ich einen Anlass für diese Vermutung gegeben hatte, aber mir fiel nichts ein.
„Also wenn, ist das auch nicht schlimm, hat Mutti gesagt.“
Ich war versucht, irgendeine weibliche Verehrerin zu erfinden, nur um in Ruhe gelassen zu werden, aber dann schüttelte ich doch den Kopf.
„Das heisst, du kommst nur nicht raus aus deiner Höhle, brauchst etwas Hilfe.“
Sollte dies etwa der Stupser sein, den meine Schwester mir angekündigt hatte?
Immer noch lag Tobias‘ Blick auf mir, schien er nach passenden Worten zu suchen. Also sprach ich es aus:
„Eigentlich war ich nur mit meiner Schwester verabredet. Soll dies etwa ein Doppeldate sein?“
Während Tobias schüchtern nickte, platzte Mark heraus:
„Na, du bist doch zu sexy als Ladenhüter! Gib dem Typen doch eine Chance!“
Da wurde mir klar, dass die nächste Zeit in der Familie äusserst anstrengend werden würde.
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