Reif für die Insel?
Von: Elisha
Vanessas Herz stolperte. Da stand er vor ihrer Tür, der grosse Mann mit den wunderschönen braunen Augen, und er sah ihr direkt ins Gesicht. „Schick mich nicht weg“, wisperte er, als könnten die Bewohner der umliegenden Zimmer ihn durch die geschlossenen Türen hören. „Aber …“ , formten sich Vanessas Lippen, doch sie sprach den Satz nicht zu Ende. „Egal, komm herein!“ Und damit schlang sie ihre Arme um seine breiten Schultern und zog ihn in ihr Zimmer. Sie schauten sich noch einmal kurz an, dann küssten sie sich leidenschaftlich.
Au weia!“ Vanessa setzte sich im Bett auf. „Heisst das, ich bin auch verliebt? So ein blöder Traum!“
Noch spürte sie den Abdruck seiner Lippen, spürte die Reaktionen ihres Körpers auf die gefühlte Umarmung. Wie gern hätte sie sich wieder in ihren Kissen verkrochen und den Traum noch ein wenig weiter geführt. Die Vorstellung, ihn hier bei sich zu haben, in diesem Raum, in diesem Bett war zu verlockend. Und im Halbschlaf könnte ihre Hand seine Berührung ersetzen, auf ihren Rippen, zwischen ihren Schenkeln. Sie sank zurück.
Aber es war zu spät. Ihr Geist war wach geworden und träufelte Gedanken in ihr Bewusstsein. „Es geht nicht! Er gehört doch zu Sabrina!“
Jetzt war sie hellwach. Das war das erste, das ihr durch den Kopf ging, und nicht ihre eigene Ehe? Aber ihr Mann war weit weg im Heimatort, und nicht hier in dem Feriendomizil auf der kargen Nordseeinsel.
„In dieser Jahreszeit? Was ist denn das für eine blöde Idee!“, hatte er sich empört. „Wenn du ans Meer willst, warum nicht zum Mittelmeer oder auf die Kanarischen Inseln? Die Nordsee ist schon im Sommer zu kalt, und dazu kommt jetzt der eisige Wind! Was willst du bloss da, wo nichts los ist?“
Sie hatte also allein gebucht und erstaunt eine Gruppe von Gleichgesinnten gefunden, die es wie sie liebten, lange Strandspaziergänge zu machen oder Radtouren auf den Wegen durch die Dünen. Und mit jedem Tag hatte sie sich besser erholt gefühlt, war schon morgens mit neugieriger Erwartung zum Frühstück erschienen und hatte sich auf jeden einzelnen Tag gefreut.
Zunächst hatte sie ihre Zeit allein verbracht, doch immer öfter hatte sie sich auf gemeinsame Unternehmungen eingelassen, die die anderen Urlauber auf dem schwarzen Brett vor dem Speiseraum eingetragen hatten. So war sie mit ins Café gegangen, um echten ostfriesischen Tee zu trinken. Und es war gemütlich, sich zu unterhalten und dem Kandis beim Schmelzen in der heissen Flüssigkeit zuzusehen, während draussen der Wind pfeifend um die Ecken zog. Dabei entstand auch die Idee, zur Entlastung der stressgeplagten Mütter und Väter alle Kinder zum Muschelsammeln zu begleiten. Vanessa fand das Paar, das den Vorschlag machte, auf Anhieb sympathisch und trug sich wenig später auf dem schwarzen Brett unter den Namen Sabrina und Martin ein.
Es war ein schöner Nachmittag, wie sie alle in Gummistiefeln mit Eimerchen und kleinen Schaufeln am Strand die angeschwemmten Muschelschalen zusammen trugen. Vanessa fühlte sich zunächst noch etwas unwohl bei dem ungewohnten Kontakt mit den kleinen Wesen, aber sie schaute zu, wie Sabrina die Kleineren bei der Hand nahm und Martin etwas in einfacher Sprache erklärte. Als sich dann eine kleine Hand in ihre legte, wusste sie, dass sie jetzt auch dazu gehörte.
„Ich würde auch gern etwas anbieten“, sagte sie abends zu Sabrina. „Aber ich kenne mich auf der Insel gar nicht aus, und auch sonst weiss ich nichts.“
„Vielleicht etwas am Nachmittag im Gruppenraum“, überlegte Sabrina. „Was machst du denn gern?“
„Ich singe.“ Vanessa war von ihrer eigenen Antwort überrascht.
„Das ist ja toll, ich habe eine Gitarre dabei“, sagte Martin begeistert.
„So gut spiele ich aber nicht.“
„Ich kann dich doch begleiten.“ Sie überlegten eine Weile, welche Songs sie vortragen wollten, gingen verschiedene Melodien miteinander durch.
„Und bei dem Lied können alle mitsingen. Perfekt!“
Die Veranstaltung wurde ein Erfolg. Sie hatten eine gute Mischung ausgesucht, eine langsame Ballade, einen berührenden Blues mit viel Herzschmerz, dann wieder ein Lied mit schnellerem Rhythmus … Es fühlte sich gut an, und nach dem Abendessen sassen sie zu dritt noch im Gruppenraum an einem Tisch und teilten sich eine Flasche Wein.
„Heute werde ich besonders gut schlafen“, sagte Vanessa glücklich und stellte das Glas vor sich ab.
„Es hat auch wirklich Spass gemacht.“ Martin trank einen Schluck. Er schaute etwas an Vanessa vorbei.
„Für mich war es das allererste Mal, dass ich vor anderen Leuten gesungen habe.“
„Das hat man dir aber nicht angemerkt.“
Wieder dieser unruhige Blick. Vanessa wunderte sich, weil irgendetwas anders war. Im Café hatte er ihr ganz normal in die Augen gesehen, und auch beim Zusammenstellen der Songs hatten sie unbefangenen Kontakt gehabt. Aber jetzt schien Martin einen direkten Blickkontakt zu meiden. Dafür sah er sie immer wieder von der Seite an, wenn sie mit Sabrina sprach. Je später der Abend, desto deutlicher wurde es ihr, dass er anscheinend ein wenig für sie schwärmte.
„Ich gehe mal nach den Kindern gucken“, sagte Sabrina, „wenn ich in zehn Minuten nicht da bin, komme ich nicht mehr herunter. Dann bin ich vermutlich eingeschlafen.“
Es wurde nicht besser, als sie weg war; im Gegenteil, Martin schien noch gehemmter und ziemlich verkrampft.
„Ich glaube, ich habe genug für heute“, sagte Vanessa. Sie stellte ihr Glas auf den Wagen für benutztes Geschirr. „Gute Nacht!“
„Ja, schlaf gut!“
Vanessa ging glücklich die Treppe zu ihrem Zimmer hoch.
Sie hatte sich geschmeichelt gefühlt durch sein Interesse. Doch wie der Traum zeigte, war es nicht spurlos an ihr abgeprallt.
„Ich glaube, ich brauche mal eine kühle Dusche!“, sagte sie zu sich selbst und lachte.
So viele neue Erfahrungen in diesem Urlaub! Vanessa freute sich. Mal sehen, was der neue Tag so brachte.
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