Nachtschicht
Von: Elisha
Alena war bei Schichtanfang auch noch in der zweiten Woche aufgeregt. Inzwischen hatte sie sich an die neuen Eindrücke im Heim gewöhnt, dieses Gemisch aus Urin und medizinischer Desinfektion, das ihr beim Betreten in die Nase stieg, an die Geräusche aus den Zimmern und den Zeitplan, den sie in der Nacht einhalten sollte. Aber da sich die alten Leute schon nach dem Abendessen auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten oder dann für den Schlaf vorbereitet worden waren, blieb ihr nicht mehr viel zu tun.
Nach der ersten Runde, bei der sie bei der eingeschlafenen Frau Paschke den Fernseher ausschaltete, ging es nur noch darum, die Langeweile zu bekämpfen und den eigenen Schlaf zu unterdrücken. In der ersten Woche war alles ruhig geblieben, und auch die weiteren Runden waren ereignislos verlaufen.
„Heute musst du auf die 3c“, begrüsste sie Pascal.
„Ich?“ Sie kannte die Gerüchte über die Station.
„Ja, Melanie ist krank, und wir haben einen totalen Engpass. Du musst da aushelfen.“
„Aber ich bin ungelernt. Ich soll doch nur überwachen.“
„Wenn alle schlafen, ist das ja auch in Ordnung“, sagte Pascal und seufzte. „Dann reicht das Personal.“
„Und kannst du nicht …?“
„Alena, ich bin der einzig gelernte Pfleger hier im Haus. Drüben ist noch Therese, und du hilfst ihr.“ Er tätschelte ihre Schulter. „Komm, du schaffst das schon.“
Alena hatte etwas Angst vor der verhärmten Frau mittleren Alters, die sie am Eingang der Station begrüsste. Sie bemühte sich, sich schnell den Aufbau der Station zu merken und die Einweisung umzusetzen. Eigentlich ähnelten sich beide Flure, nur der Tagesraum war hier unter einer abgeflachten Schräge und bei Tageslicht vermutlich düsterer als in dem anderen Gebäude.
„Pascal ist heute für beide Stationen drüben zuständig. Solange alles ruhig bleibt, ist das kein Problem. Wenn er Hilfe braucht, ruft er uns über das Telefon.“ Sie drückte ihr ein Handy in die Hand. „Das musst du immer bei dir tragen. Wir sind auf Kurzwahl, Pascal die 1, ich die 2.“
„Und wann soll ich meine Runden machen?“
„Runden?“ Therese grinste grimmig. „Ach ja, die … Na, die machst du zwischendurch.“
Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus, um in den unteren Flur zu gelangen, blieb dann aber nochmal stehen. „Und ganz wichtig: Nicht den Aufzug benutzen! Nicht dass du da eingeklemmt bist, weil der wieder steckenbleibt. Wir sind aufeinander angewiesen.“
Alena schritt leise über den Flur und sah durch die Scheibe zum Haus gegenüber. Die kleinen Fenster der Bewohner waren dunkel, nur hinter einem flimmerte es bläulich. Das war bestimmt wieder das Zimmer von Frau Paschke. Sie sah Pascal im oberen Stock am Aufenthaltsraum vorbeihuschen, bevor ein Zimmer erleuchtet wurde; anscheinend musste er sich da noch um einen Bewohner kümmern.
„Ich habe Durst“, sagte ein zartes Stimmchen neben ihr, und Alena fuhr überrascht herum. Eine zierliche, greise Frau im langen Nachthemd stand neben ihr, die Haare wirr um ihren Kopf verteilt.
„Frau …?“, stammelte sie und versuchte sich wieder an die einleitenden Worte von Therese zu erinnern. Sie nahm die Seniorin bei der Hand wie ein kleines Mädchen und ging mit ihr zu einer geöffneten Tür. „Frau Carmel“, las sie auf dem Schild daneben, „kommen Sie, ich gebe Ihnen was zu trinken.“ Damit führte sie die Frau in ihr Zimmer, füllte Wasser aus einer Glasflasche in einen Becher und hielt ihn ihr hin. „Bitte sehr.“
Nachdem sie Frau Carmel wieder ins Bett gebracht hatte, sagte Alena: „Ich stelle den Becher gleich neben ihr Bett. Dann können Sie noch mehr trinken, wenn Sie wieder Durst haben.“ Aber die alte Frau hatte die Augen schon geschlossen und drehte den Kopf zur Wand. Leise verliess Alena das Zimmer und liess die Tür einen Spalt offen. Dann schaute sie ins nächste Zimmer. Es war dunkel, und gleichmässige Atemzüge kündeten vom Schlaf der Bewohnerin.
„Puh“, sagte Alena leise zu sich, „das war aufregend.“ Sie kontrollierte weiter die Zimmer, und ihr Puls kam langsam zur Ruhe. Alles war ruhig, bis ein Tuten im Telefon ertönte.
„Alena, alles in Ordnung bei dir?“
„Ja, alles okay“, sagte sie mit ein wenig Stolz in der Stimme.
„Gut. Ich muss mal rüber zu Pascal, das heisst, du musst beide Stationen im Auge haben. Schaffst du das?“
„Ja, ich bin mit der Runde fertig, dann kann ich ja unten gucken.“
„Gut, bis gleich. Ich bin los!“
Alena wollte die Treppen hinunter gehen, als ein langgezogener Laut auf dem Flur erklang. Aaaauuuuuuhhhhhhh! Es klang wie eine Alarmanlage, und Alena rannte los. Da stand eine Gestalt mitten im Flur, und aus ihrem Mund ertönte der Sirenenton. Diesmal ein Mann, den sie nicht kannte. Wie sollte sie den bloss beruhigen?
Aaaaaaauuuuuuuhhhhh!
Alena näherte sich, sprach beruhigend auf ihn ein. „Ganz ruhig! Ich bin hier.“
„Es war wieder da! Hier! Ich habe es gesehen!“ Der Mann hatte die Augen weit aufgerissen und reckte die Arme wie zur Abwehr hoch. Alena berührte einen Arm , streichelte ihn leicht.
„Aber jetzt bin ich da. Es tut Ihnen nichts.“ Er schüttelte ihre Hand ab.
„Es wird uns alle töten!“ Der Mann wirkte weiter erregt, und Alena fragte sich, was sie tun sollte. Sie nahm das Telefon hoch, aber er schlug es ihr aus der Hand, so dass es im Bogen auf den Fussboden fiel. „Nichts Elektrisches. Dadurch wird es angezogen.“
Alena versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. „Kommen Sie, wir suchen Ihr Zimmer“, sagte sie zaghaft.
„Aber da war es eben. Da will ich nicht hin.“ Der Mann bäumte sich auf und stand wie ein grosser Bär mit ausgestreckten Tatzen vor ihr. Mit einer riesigen Pranke griff er nach ihrem Handgelenk. „Bluuuuut“, sagte er gedehnt.
„Urs, lass das!“, ertönte eine Stimme, die sie nicht sofort erkannte. „Sie ist doch noch fast ein Kind.“ Frau Carmel stand plötzlich bei ihnen.
„Aber es ist wieder da! Es will ein Blutopfer.“ Der Mann beugte sich über Alena.
„Heute nicht! Heute ist Ruhetag!“ Frau Carmel löste behutsam seine Hand und führte ihn über den Flur. Alena hörte noch Schritte, dann war es totenstill. Als sie sich bückte, um ihr Telefon aufzuheben, tutete es.
„Ich bin wieder da. Alles okay bei dir?“
Der Flur war ganz ruhig, Schnarchen drang aus Frau Carmels Zimmer.
„Ja, alles wieder ruhig. Nur ein Bewohner war aufgewacht. Er ist jetzt aber wieder in seinem Bett. Urs, den Nachnamen weiss ich nicht.“
„Was meinst du?“ Thereses Stimme klang erstaunt. „Ein Mann? In dem Haus wohnen doch nur Frauen.“
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