Neues Leben
Von: Elisha
Dieses Mal ist es ein besonders schönes Osterfest. Nicht nur, dass ich meine Schwester mit ihrer Familie besuche. Schon im Vorgarten bemerke ich die Veränderungen, seit ihre Tochter mit Mann und Kindern eingezogen ist und Dorothea auf dem Altenteil wohnt. Denn als Doros Schmerzen in Rücken und Knie anfingen und sie es nicht mehr schaffte, den Rasen im Vorgarten zu mähen, hatte sie alle Pflanzen abtragen und alles mit Steinen in unterschiedlichen Formen und Farben anlegen lassen. Ein künstlicher Bach aus türkisen Glasbausteinen hatte in weissem Kies geleuchtet, umgeben von dunklen Felsstücken am Rand. Heute begrüssen mich der neu verlegte Rollrasen und kleine Setzlinge als kommende Hecke.
Drinnen hat sich auch alles verändert. Doro führt mich durch die grosse Wohnküche, in der wieder Mahlzeiten zubereitet werden, in den angebauten Trakt daneben, in dem sie ihre zwei Räume bewohnt.
„Hast du dich denn eingewöhnt?“, frage ich sie und forsche nach kleinen Bewegungen in ihrem Gesicht, die Unaussprechliches ausdrücken. Aber da finde ich nichts, nur gelöste Entspanntheit.
„Ja, das war wirklich eine gute Entscheidung!“ Sie lädt mich mit einer Handbewegung ein, Platz auf dem Sofa zu nehmen, neben dem Kissen mit dem Bild von „Tobi“, dem verstorbenen Königspudel. Sie reicht mir den vorbereiteten Kaffeebecher und rückt die Vase mit dem Osterstrauch ein wenig zur Seite, so dass die aufgehängten Eier hin und her schwingen. Dann setzt sie sich in den Sessel. „Jörg kümmert sich ums Haus und den Garten, Amelie und ich wechseln uns mit Kochen ab oder machen das gemeinsam, und die Kinder bringen immer Leben in die Bude.“ Sie lacht glücklich. „Damit ich nicht völlig vergreise.“
Ich habe nie Kinder gehabt und sie immer um die Erfahrung beneidet. Umso mehr habe ich die ersten Jahre mit Amelie genossen, bevor ich wegen der Arbeit weit weg gezogen bin. Ich bin als Tante gern immer dann eingesprungen, wenn ein Babysitter gebraucht wurde. Damals habe ich gedacht, das wäre zur Vorbereitung auf eigene Kinder und konnte ja nicht ahnen, dass nie der richtige Mann und die richtige Zeit zusammen passen würden.
„Wo sind denn die kleinen Schnecken?“, frage ich und wundere mich über die Stille im ganzen Haus.
„Die sind heute zusammen auf einem Kindergeburtstag“, erklärt Doro. „Das wird noch turbulent genug morgen.“
Ich nicke. Auch Amelie war damals schon beim Morgengrauen wach geworden und hatte ungeduldig auf die Eiersuche gewartet. Für ihren Vater war es immer schwierig gewesen, unbemerkt als Osterhase nach draussen zu gelangen. Mein Herz hüpft, wenn ich mir Jemma und Milan beim Suchen vorstelle.
Ich nippe an meinem Kaffee, höre meiner Schwester zu, was sich alles getan hat seit meinem letzten Besuch. Vieles weiss ich schon vom Telefon, und auch Doro kennt sich aus mit meinen letzten Dienstreisen, deren Fotos ich in der Familiengruppe an alle verschickt habe. Aber so gut die Technik hilft, am Leben der anderen teilzunehmen, ist es doch etwas ganz anderes, wieder hier in der Heimat zu sein.
„Und gleich willst du noch zu Margret?“
Dorothea ist die einzige, die meine Freundin noch bei ihrem Geburtsnamen nennt. Alle anderen sagen „Greta“ zu ihr, seit die Kurzform in Mode gekommen war. Was ja auch mittlerweile schon wieder eine Generation zurückliegt, denke ich.
„Ja, endlich ist sie über Ostern mal nicht auf ihrer ländlichen Finca auf Mallorca.“ Es ist gar nicht so einfach, verschiedene Leben aufeinander abzustimmen. Ich sehe auf die Uhr an meinem Handgelenk und sage: „Ich glaube, ich gehe mal rüber. Willst du mit?“
„Nee, geh ruhig allein.“ Eine Hand wischt kurz über ihr rechtes Knie. „Ich lege mal meine Beine hoch.“
Es gibt ein Schlupfloch in der Hecke hinter dem Haus, durch das wir früher gekrochen sind, um uns zu besuchen. Heute benutze ich brav den Umweg über die Vorderseite.
Schon der kleine Garten vorn deutet an, wer hier wohnt. Alles voller bunt blühender Stauden und Sträuchern, zwischen denen Bienen, Hummeln und Schmetterlinge fliegen. Und mittendrin ein geschmückter Palmstock aus Weide, Buchsbaum und Wacholder, mit einem einzelnen Stamm, der sich in drei Stöcke verzweigt wie Kopf und hochgehaltene Arme eines Menschen. Ich weiss, darin versteckt sich eine Rune, die unerkannt im christlichen Brauch überlebt hat und bewusst von Greta eingesetzt wird. Schliesslich hat sie sich als heidnisch angehauchte Kräuterfrau in der Region einen Namen gemacht.
So bekomme ich nach der herzlichen Umarmung von ihr auch einen Kräutertee und ein Schälchen mit Quark angeboten, das mit grünen Spitzen durchzogen ist. Inzwischen weiss ich, dass am Gründonnerstag aus Tradition die ersten Wildkräuter verarbeitet wurden, die den Menschen nach einem kargen Winter die ersten Vitamine lieferten. Natürlich war das in Zeiten vor weltweitem Handel von Obst und Gemüse und vor der Entdeckung von Vitalstoffen und Spurenelementen, aber auch heute schmeckt er ausgezeichnet.
„Wie geht es dir?“, frage ich Greta, als wir auf ihrer alten Hollywoodschaukel sitzen, wo wir schon als kleine Mädchen Geheimnisse ausgetauscht haben. Es ist mehr als eine leere Redewendung. Alles ist zugelassen, ich bin auf vieles gefasst, was sie mir erzählen will: das punktuelle Leben im Ausland, die ständig lauernde Trauer um ihren verstorbenen Mann, Einsamkeit im Alter … Doch sie lehnt sich entspannt zurück und seufzt: „Es tut gut, mal wieder hier zu sein.“
Wie recht sie doch hat! Nicht ohne Grund war Ostern früher das höchste aller Feste, bevor Weihnachten in Mode kam. Schliesslich wird das wiederkehrende Leben gefeiert, ob in der christlichen Kirche, dem heidnischen Kult oder selbst den profanen Osterleckereien mit Hasen, Lämmchen und natürlich Eiern. Fruchtbarkeitssymbolen eben.
Und während ich an das Leben denke, das noch vor mir liegt, geniesse ich es, jetzt in der Heimat zu sein, mit Menschen, die mich all die Jahre kennen. Wie Greta lehne ich mich entspannt zurück, während wir ganz sacht im Wind geschaukelt werden.
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