Gras drüber
Von: Elisha
Mit einem Klicken schliesse ich den Wagen ab und schaue auf die Uhr. Eine knappe Stunde, dann muss ich Linda wieder vom Handball abholen. Ich habe auf der Strasse geparkt, gehe jetzt die schräge Auffahrt hoch und merke mit einem Seitenblick, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Gras drüber (Foto: PeterA / pixelio.de)
„Die Hecke ist nicht geschnitten“, murmele ich und drücke auf den Klingelknopf. Niemand antwortet, noch nicht mal Lumpis Gebell ist zu hören. Ein Druck in meinem Magen, und ich schelle noch einmal.
Wieder nichts! Ich gehe weiter über das Grundstück und drücke die Klinke zum Garten hinunter. Nicht abgeschlossen. Leise quietschend lässt sich das Tor öffnen, und ich gehe über die Terrasse. Die wirkt ganz grün, zwischen den Steinplatten wuchern Gras und Klee. Ein braunes Bündel springt um mich herum, begleitet von heftigem Gebell.
„Lumpi“, unsere Hunde heissen immer so, „da bist du ja!“ Ich gehe weiter ins Grüne und erstarre. Nur drei Wochen, doch alles ist verändert. Nichts ist mehr so, wie ich es schon ewig seit meiner Kindheit kenne. Aus dem gepflegten, kurz geschorenen Rasen ist eine bunte Wiese geworden, von farbigen Tupfen durchsetzt. Lumpi hüpft wie ein Kaninchen in einem Comic, um in dieser grünen Wildnis voranzukommen, und seine langen Ohren schwingen dabei auf und ab.
Fast zum Lachen, doch der sich steigernde Druck in meinem Magen und eine beklemmende Starre lassen meine Mimik gefrieren. Unruhig schaue ich: in der Mitte der Grünfläche eine Figur, reglos, auf dem Liegestuhl, eine leere Liege daneben. Wie in meinem Traum! Nur da waren sie noch zu zweit.
Ich weiss nicht, ob meine Eltern es je erwogen haben, damals, als meine Mutter ihre Krebsdiagnose erhielt. Aber dreimal habe ich es im Traum erlebt, wie sie sich gemeinsam in den Garten gelegt haben nach ihrem Schierlingsbecher, Hand in Hand, inmitten dieser Natur.
Inzwischen hat Lumpi so viel Lärm gemacht, dass mein Vater aufgewacht ist und sich langsam zu mir umdreht.
„Martina“, sagt er erstaunt, und ich weiss nicht, ob er sich wirklich freut. „Du hättest doch anrufen können, dann hätte ich jetzt Kuchen.“
Ich stapfe auf ihn zu und schlinge meine Arme um seinen schmächtigen Körper. Vergangen ist die Fülle, die in meiner Kindheit zu ihm gehörte. Während meine Mutter Pfund um Pfund verlor, so löste sich auch seine Statur auf, als Pfand für die tägliche Pflege.
„Sag bloss, du hättest gebacken“, entgegne ich und grinse.
„Ich lasse backen, das weisst du doch!“ Er lacht genauso wenig fröhlich. „Ich hätte ihn ausgefroren.“ Ausgefroren sagt man in unserer Familie immer zu aufgetaut, aber gekauften Kuchen hat es bei uns früher nie gegeben. Darauf weise ich ihn nicht hin.
Ich setze mich auf die zweite Liege, lehne das angebotene Getränk ab und mustere ihn. Schliesslich ist meine Zeit begrenzt, und ich will doch sicherstellen, dass es ihm gut geht. Es ist jetzt über ein halbes Jahr her, dass meine Mutter uns verlassen hat, und nie finde ich den richtigen Ton zum Reden. Auch für mich war ihr Tod eine schlimme Erfahrung, und immer noch kann ich es an manchen Tagen nicht begreifen, dass sie für immer weg ist. Doch ich habe meinen Mann und meine Kinder, meine Arbeit und Routinen, alles geht weiter wie zuvor.
Für meinen Vater ist das völlig anders: sein täglicher Ablauf, seine Lebensplanung, all das zerbarst im Augenblick der Diagnose, und aus einem ruhigen, genussvollen Renteneintritt wurde ein täglicher Kampf um Mutters Lebensqualität, den er letztendlich verlor.
Ich blicke wieder auf die Uhr an meinem Handgelenk, dann auf die Gräser um uns herum und frage:
„Hast du es nicht geschafft zu mähen?“ Ohne die Antwort abzuwarten, überlege ich, wen ich am besten dazu verpflichten kann, meinen Mann oder meinen Sohn. Im Geist höre ich sie stöhnen; nein, sie haben keine Lust und andere Dinge zu tun, und ich gehe meinen Zeitplan durch, suche eine Lücke, in der ich wenigstens den Vorgarten schaffe.
„Du siehst nicht aus, als hättest du zugehört“, stellt mein Vater fest. Ich sehe in sein Gesicht und erkenne keinen Vorwurf; stattdessen dieselbe Sorge wie in meinem. Ich schlucke, wende mich Lumpi zu, der es sich neben mir gemütlich gemacht hat und jetzt versucht, mein Kinn zu lecken, streichele ihn sorgsam.
„Du wirst Ärger mit den Nachbarn bekommen“, setze ich wieder an.
„Jeder kann doch machen, was er will.“
„Aber die Reimanns haben gerade neuen Rollrasen legen lassen. Meinst du, sie wollen deine Samen darin haben?“ Der Druck im Magen ist einem Krampf gewichen, Wut steigt in mir auf, was soll das Ganze? Früher war mein Vater doch auch für das Mähen und Heckeschneiden zuständig. Er hat doch Zeit genug, warum funktioniert er nicht?
„Über kurz oder lang haben sie die Blumen eh wieder drin. Haben wir doch alle in der Strasse.“ Ich sehe meinem Vater ins Gesicht, suche nach einer Spur von kindischem Trotz. Aber er wirkt nur sachlich.
„Das klingt ja, als wenn du gar nicht versuchst, deinen Rasen rein zu halten!“ Ich schaffe es nicht, meine Stimme frei von hilfloser Empörung zu halten. Jetzt kommt bestimmt das Muster von früher: verletzt durch meinen Vorwurf wird er zurückschlagen, mich klein und dumm erscheinen lassen. Doch ich täusche mich.
„Ja, da hast du recht“, ist alles, was er sagt.
Jetzt bereue ich, den Saft ausgeschlagen zu haben, hätte gern ein Glas in der Hand, einen Schluck im Mund.
„Ich sehe dem Gras beim Wachsen zu“, sagt mein Vater leise.
Redensarten gehen mir durch den Sinn, das Gras wachsen hören oder ins Gras beissen. Panik packt mich beim Letzteren, mein Herz rast, ich spüre ein Pochen an meinem Hals. Ich schnappe nach Luft, schlucke wieder, schaffe dann ein:
„Was meinst du damit?“ Und plötzlich stimmt es, ist es kein als Frage getarnter Vorwurf, ich will wirklich verstehen.
„Ist das nicht eine Pracht, mit der das alles wächst?“ Er macht eine ausladende Armbewegung, und ich folge mit meinem Blick über die grüne Wildnis. Eine Bö streift durch die überkniehohen Halme, lässt mich an ein Grasmeer denken.
„Hast du bemerkt, wie unterschiedlich diese Gräser sind?“ Mein Vater lässt die Finger durch die filigranen Enden streifen. „Kurz sind sie eine grüne Masse, aber so ... Komm, mach das auch einmal.“
Etwas widerwillig greife ich neben mich, berühre Rispen und Ähren. Flughafer, Quecke ... sortiert mein Verstand, doch das wirklich Wichtige fange ich damit nicht ein. Wie ein Streicheln nehme ich die Berührung auf, Zärtlichkeit überwältigt mich, eine bodenlose Sehnsucht macht sich in mir breit. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, breche ich in Tränen aus, werde ich nicht pünktlich sein, kann ich meinen Alltag nicht mehr durchstehen! Ich spanne meine Muskeln an, reisse mich zusammen, versuche, zu retten, was zu retten ist.
Der Blick meines Vaters ruht auf mir, seine Arme offen als mögliche Zuflucht. Doch er drängt mich nicht.
„Ja, sie haben was, diese Gräser“, stosse ich hervor. Er lächelt, greift in den Korb unter seiner Liege und holt einen kleinen Computer heraus. Ich wusste gar nicht, dass er ein Tablet hat.
„Ich habe wieder mit Fotografieren angefangen“, erklärt er und reicht es mir nach ein paar Klicks. Ich sehe abgebildet ein Strukturengeflecht an Halmen, dann ein aufrecht stehendes Büschel, dann wieder eine undurchdringlich grüne Matte ...
„Ich kann den Bruno jetzt verstehen.“ Ich bin kurz verwirrt, doch dann fällt mir die Geschichte ein, die auf Familienfesten immer wieder mal erzählt wird. Mit Bruno ist der Studienfreund von meinem Vater gemeint, der als Grasmaler Gasser in Basel Berühmtheit erlangt hat. Anders als mein Vater, den ich nur als technischen Zeichner kenne.
„Deine Bilder gefallen mir“, sage ich und merke erst beim Sprechen, dass ich es ernst meine. „Und schön, dass du wieder Fotos machst!“
„Ja, weisst du“, setzt mein Vater an und stockt ... Auch ihm scheinen die richtigen Worte schwer zu fallen. „Das Leben ist nicht selbstverständlich, wenn jemand stirbt, den wir lieben.“
Ich wage kaum zu atmen, zu nah ist er an meinen Ängsten.
„Ich hatte nie vor, mich umzubringen, aber vor Unfall oder Krankheit ist man nicht gefeit. Da muss man sich wirklich entscheiden, ganz bewusst Ja sagen zum Weiterleben.“
„Das hast du gemacht?“
Er nickt bedächtig und macht wieder diese Armbewegung über die Wiese. „Das ist mein neues Leben, diese Fülle.“
Ich spüre, wie eine tonnenschwere Last von mir gleitet, und ich springe hinüber zu ihm, so dass Lumpi vor Schreck von meiner Liege purzelt und aufgeregt zu bellen beginnt. Vaters Arme legen sich um mich, und auf einmal spüre ich wieder ihre Stärke, kann mich wieder einkuscheln wie früher. Ich fühle, wie erschöpft ich bin, wie sich jeder Muskel, jede Zelle nach Erholung sehnt, wie ich endlich, endlich auch zur Ruhe kommen will. Mir fällt der Bus ein, den Linda gern nehmen wollte, und ich weiss, auch bei mir wird sich einiges ändern.
„Möchtest du jetzt etwas zu trinken?“, fragt mein Vater und sieht mich freundlich an.
„Dann muss ich nur noch kurz telefonieren.“ Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, weil ich es ganz bewusst sage. „Ja, gern.“
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