Das Familiengeheimnis
Von: Elisha
„Ich finde dich unausstehlich, Vater!“ Nach den ganzen Vorwürfen und dem wütenden Gekeife, das Rosa hervorgebracht hatte, war dieser letzte Satz eher mittellaut ausgesprochen, und sie hatte sich schon zum Gehen gewandt. Sie hasste diese Auseinandersetzungen, die in letzter Zeit immer öfter stattfanden, mit beiden Eltern. Und während ihr Vater ihr entgegen brüllte, sackte ihre Mutter während eines Streits immer mehr in sich zusammen, bis die Tränen ihr aus den Augen traten und ihre Kehle vor Schluchzen vibrierte.
„Das ist eine Zeit, die geht vorüber“, hatte die Amme ihre Mutter getröstet. „Das Alter!“
Auch Rosa hielt sich an dem Trost der Amme fest, denn sie verstand nicht den ganzen Wirbel, in den sie immer wieder hineingezogen wurde.
Früher war es doch so schön gewesen: ihr Vater, stark und mächtig, der sie verlässlich mit freundlichen Blicken und aufbauenden Worten nährte, ihre Mutter, die ihr Singen und Flötenspielen beigebracht hatte und der Kunst so zugetan war wie sie. Sie hatte ihnen so viel zu verdanken, und das Leben hätte ewig so weiter gehen können. Aber alles veränderte sich allmählich, und sie fühlte sich immer wieder von wilden Gefühlswallungen überschwemmt.
Hatten ihre Eltern es vorausgesehen und deshalb kein weiteres Kind bekommen? Jede Frage nach einem kleinen Bruder oder einem Schwesterchen war von den Erwachsenen mit einer banalen Antwort abgetan worden, gefolgt von einem dichten Schweigen, das auf ein düsteres Geheimnis hinwies.
Als kleines Kind hatte sie noch durch Fragen versucht, zu dem Kern zu gelangen, aber sie hatte nur erfahren, wie unaussprechbar das Erlebte sein musste, dass keiner es in Worte fassen wollte. Etwas musste geschehen sein kurz nach der Geburt. Jedes Jahr wünschte sie sich von ihrer Mutter dieselbe Schilderung, wie sie den Weg ins Leben gefunden hatte, und ihre Mutter endete jedes Mal ergriffen, welch ein hübsches, liebenswertes Wesen ihr da in den Arm gelegt wurde. Aber etwas war mit ihrem winzigen Ich geschehen, und es wirkte weiterhin wie ein schleichend langsames Gift in ihrer aller Leben.
Sie selbst verstand nicht, was aus ihrem Inneren immer wieder herausbrach. Als Kind hatte sie sich eingerichtet in dem grossen Gebäude und dem wunderschönen Garten, hatte sich Geschichten ausgedacht und in Ecken und Winkeln gespielt, und ihr Leben war ihr reich und voll vorgekommen. Aber immer öfter tauchte in ihr die Frage auf, wie ausserhalb der Mauern die Welt wohl funktionierte. Ein Sehnen nach unbekannten Orten und Möglichkeiten trieb sie an, was aber immer zu demselben harten „Nein“ der Eltern führte und dann ihre Wut auslöste.
„Bin ich ein böser Mensch?“, hatte sie einmal die Amme gefragt, als sie ihre Eltern wieder in die Verzweiflung getrieben hatte. „Haben sie Angst vor mir?“
Die Amme hatte die Wäsche, die sie gerade zusammenlegte, fallen lassen und hatte Rosa in den Arm genommen.
„So was darfst du gar nicht denken, Liebes!“ Sie hatte ihr die Tränen getrocknet und fortgefahren: „Deine Eltern haben Angst um dich. Sie wollen dich beschützen.“
„Aber warum machen sie mir das Leben nur so schwer? Warum kann ich nicht selbst herausfinden, wohin ich gehen und was ich machen will?“
„Die Zeit wird kommen, Kind“, hatte die Amme gesagt, und Rosa hatte versucht, ihr zu glauben.
Doch die Amme war heute nicht zugegen, und Rosa wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Ohne nachzudenken, lief sie los, als würden ihre Füsse die Entscheidung treffen. Zuerst stieg sie die steinerne Treppe hinauf, dann durch die düstere Diele bis hin zu dem eng gemauerten Turm, in dem sich in mehreren Kreisen die hölzerne Wendeltreppe wand.
Wenn sie schon nicht die äussere Welt betreten durfte, dann wollte sie zumindest einen Blick weit über die Zinnen und Mauern werfen. Vor dem schmalen Fenster am Ende machte sie Halt, und bemerkte zum ersten Mal in ihrem Leben eine geöffnete Tür daneben. Vorsichtig trat sie in die kleine Kammer, deren Mauern im Schein der Abendsonne angenehm warm erschienen. Ein rhythmisches Geräusch, das sie noch nie vernommen hatte, kam von einem seltsamen Gerät, an dem eine alte Frau, der Amme sehr ähnlich, sass und ihre Hand bewegte.
„Da bist du ja“, sagte die Fremde in freundlichem Ton, „ich habe dich schon erwartet.“
„Welch ein Abenteuer!“, dachte Rosa in einer Mischung aus Angst und Lust. Die Eltern mit ihren Verboten kamen ihr in den Sinn, aber gleichzeitig spürte sie, dass dies der Tag der Entscheidung sein könnte. Ihr ganzes weiteres Leben mit all seinen Möglichkeiten schien hier in dieser kleinen Stube seinen Anfang zu nehmen, und Schritt für Schritt näherte sie sich der alten Frau.
„Siehst du, so wird aus Flachs Leinen, und daraus können wir Stoffe weben und Kleidungsstücke herstellen. Willst du lernen, etwa Nützliches zu tun?“
„Wirst du es mir beibringen?“, fragte Rosa. „Und was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?“ Mit diesen Worten griff sie nach der Spindel.
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