Ungeheuer am See
Von: Elisha
Schon lange stehe ich hier. Ein bohrender Schmerz in meinem Bauch erinnert mich daran, dass ich seit Ewigkeiten nichts gefangen habe. Seit es hell ist, bin ich auf der Jagd, aber bisher ohne Erfolg.
Der hungrige Fischer (Foto: Ruth Rudolph / pixelio.de)
Zuerst habe ich lange Zeit in dem kleinen Kanal gestanden, wo das Wasser sonst träge dahindümpelt. Im Sommer ist es brackig und riecht übel, aber nach den Regengüssen der letzten Tage war es braun von der mitgeführten Erde. Wie sollte ich da einen Fisch erspähen? Oder andere Beute? Ausserdem reichte mir das Wasser fast bis zum Rumpf und trug in seiner Strömung Treibgut mit sich: knorrige Äste und Zweige mit silbern-pelzigen Früchten, Dinge aus fremdem Material und in unbekannten Formen und immer wieder weisse Blätter. Ich stakte durch die Brühe, um auszuweichen, aber als sich ein angespültes Blatt um mein Bein wickelte, wurde es mir zuviel.
Der Hunger trieb mich weiter zur Jagd. Ein Stückchen flussabwärts fliesst der Ablauf des Sees in den Kanal: Plötzlich sprudelnder Tumult! Unterhalb der Einflussstelle zitterten schon nach kurzer Zeit meine Beine bei dem Versuch, gegen die reissende Strömung anzustehen, und ich hatte ständig Angst, auf einem schlüpfrigen Stein den Halt zu verlieren und in die Fluten zu stürzen. Krämpfe in meinem Bauch liessen mich nicht aufgeben, und so suchte ich mir eine versteckte Stelle am Ufer.
So stehe ich hier, brauche dringend Nahrung. Eine Krähe hockt am anderen Ufer, zieht etwas aus dem Wasser. Triumphierend krächzt sie auf, sichert mit einem Fuss den aufgedunsenen Körper einer ertrunkenen Maus. Dann fliegt sie mit ihr im Schnabel davon.
Während ich hinter ihr her schmachte, spitzt sich meine Lage zu. Ein rotbraunes Monster steht hinter einem Busch und sieht in meine Richtung. Aufrecht auf zwei Beinen steht es wie ich, aber mehr als doppelt so gross. Ich schwanke noch zwischen Flucht und Weiterjagen, erstarre einfach, ohne mich zu bewegen. Das Ungeheuer späht mit Raubtieraugen, beide nebeneinander vorn im Gesicht. Was soll ich nur tun? Mit unbekannter Sprache redet es auf mich ein, säuselnd, als wolle es mir mitteilen, dass ich nichts zu befürchten habe. Aber gewiss ist, dass es mich gesehen hat, dass es mich meint, und ich kann mich nicht mehr rühren vor Schreck. Was nun?
Zeit vergeht, mein Herz rast, und ich muss mich zu einer Handlung durchringen. Kann ich mich retten? Wo? Hinüber zum See? Unter den Büschen durch zur Wiese? Stehen bleiben und abwarten? Als das Ungetüm ein Bein bewegt, ist es soweit: ich drücke mich vom Boden ab, breite meine grauen Schwingen aus, strecke den Hals weit vor und fliege davon.
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