Fast aller Last Ende
Von: Elisha
Der alte Mann hatte einen langen Arbeitstag hinter sich. Schon früh, noch bevor der Hahn gekräht und das Dorf zum Leben erweckt hatte, war er aufgestanden, die Beine und Lenden noch steif von der Nacht, hatte sich nur ein wenig wässrige Milch in die Tonschüssel geschüttet, einen Kanten Brot hineingetaucht und an diesem dann genagt, bis seine wenigen Zähne Bissen um Bissen hatten lösen können und er genug Kraft hatte für den langen Weg hinauf ins Gebirge.
Denn dort kannte er eine geheime Stelle, und wie sein Vater vor ihm und dessen Vater davor hatte er entschieden, welche der Bäumchen weiter wachsen sollten und welche ihre Zeit erreicht hatten, um mit dem Beil gefällt, zu einem grossen Bündel gebunden und in das Tal getragen zu werden.
Er hatte sich abgemüht, während die Sonne hinter den Bergkuppen aufgetaucht war, hatte weiter gearbeitet, während sie ihre Bahn erklommen hatte und oben am Himmelszelt angekommen war, und nachdem er sich erfrischt hatte mit dem Wasser, das er mit hohler Hand aus dem Bach in der Nähe geschöpft hatte und seine Kräfte erneuert mit dem Knapp Brot und den beiläufig gepflückten Beeren, war er weiter seiner Aufgabe nachgegangen, hatte einen dünnen Stamm nach dem anderen zu langen Staken zurechtgesägt und hatte sie schliesslich mit seinem Riemen zusammen gebunden und sich auf den Rücken geladen.
Er hatte den Abstieg begonnen, und seine Füsse trugen ihn bergab, seinem Dorf entgegen. Die ersten Schritte waren leicht, denn er dachte an seine Heimkehr. So gross war sein Bündel geworden, so viele Stämme, die er zu seiner Hütte schaffen würde, und er freute sich auf die bewundernden Blicke der anderen Dorfbewohner und auf den Nutzen, dem ihm das viele Holz bringen würde. Doch je weiter er die verschlungenen Pfade durch den Wald hinabstieg, desto schwerer wurde seine Last, desto mehr schmerzten seine Schultern und ächzten die Gelenke, und sein Herz wurde schwer.
„Was hat mich nur getrieben, so viel zu sammeln?“, murmelte er und musste sich zwingen, einen Fuss vor den anderen zu setzen. „Warum muss ich das tragen? Warum ich?“, fragte er sich bei jedem Schritt, während er sich angestrengt mit seinem Bündel dahinschleppte. Er blieb stehen, lehnte die Stirn an einen Felsen und atmete keuchend ein. „Und wozu?“ Mit der Hand wischte er sich den Schweiss von der Stirn, bevor er weitersprach: „Schon lange Zeit keine Liebste mehr daheim, die meinen Schmerz lindern kann!“ Und er sehnte sich nach einer liebevollen Hand, die einen duftenden Kräutersud auf seinem geschundenen Rücken verstreichen würde.
Bei dem Gedanken sanken seine Schultern noch mehr in sich zusammen, konnten der Last kaum noch Kraft entgegensetzen. Er wollte nicht mehr weitergehen, wollte nur noch, dass es aufhört. „Nichts mehr tun, nichts mehr fühlen, das ist meine Sehnsucht!“, flüsterte er, legte den Kopf, so gut es ging, in den Nacken und blickte nach oben zwischen die Wipfel der Bäume, wo Wolken scheinbar schwerelos vorbeischwebten. Mit einer letzten Kraftanstrengung ergriff er das Bündel und schleuderte es neben sich. Völlig ermattet bewegte er die Lippen: „Ach, wenn doch der Tod jetzt käme!“
In diesem Augenblick erschien im schwächer werdenden Abendlicht die Gestalt eines Mannes in einem dunklen Umhang und einem länglichen Werkzeug in der Hand. Der Greis erzitterte, während er den Fremden betrachtete, dessen Sense locker in der Hand ruhte. Dieser sprach mit tiefer Stimme: „Warum habt Ihr mich gerufen?“
Der alte Mann zuckte ein wenig zusammen, bevor er zur Antwort ansetzte: „Ich habe meine Last verloren.“ Er deutete auf das Bündel neben sich. „Ihr kommt gelegen. Vielleicht könnt Ihr sie mir wieder auf die Schulter legen, damit ich sie nach Hause tragen kann.“
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