Wann immer du mich willst
Von: Elisha
Nur einen Augenblick steht sie unter dem historischen Torbogen. Hier fühlt sie sich geschützt, der Wind fegt nur gebremst um die Ecke. Trotzdem fröstelt sie, tritt von einem Bein auf das andere. Vielleicht hätte sie doch ihre Jeans anziehen sollen, sogar Leggings darunter zum unsichtbaren Wärmeschutz. Stattdessen hat sie sich ein Minikleid gekauft und trägt es wie er es gern hat, wie es sogar dem Präsidenten im Weissen Haus gefallen würde: superkurz mit langen Stiefeln. Nur die fellbesetzte Kapuze ihrer Winterjacke bietet ein bisschen Wärme.
Von hier aus kann sie um die Kurve sehen, und dort geht er, mit langen, ausholenden Schritten.
„Keine Sorge, ich folge dir“, flüstert sie in den Wind. Als genügend Abstand zwischen den beiden liegt, setzt sie ihren Gang fort. Sie kommt sich vor, als würde sie trippeln und muss ihr Tempo noch etwas steigern, um Schritt zu halten. Denn sie darf ihn nicht aus den Augen verlieren, dann wäre doch alles umsonst. Warum rast er bloss so?
Natürlich, sie weiss es. Wie sie alles kennt, was ihn betrifft. Stückchen für Stückchen hat sie es zusammengetragen, seine Vorlieben, seine Abneigungen, seine Interessen. Zum Beispiel seine Neigung für das Weltall, da musste sie sich erst einlesen, um da mitzukommen.
„Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten“, hat sie sich den Merksatz eingetrichtert, um sich die Reihenfolge der Gestirne merken zu können: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto. Schliesslich könnte ja einmal das Gespräch zwischen ihnen darauf kommen. Und dann hat sie weitergelesen und verblüfft festgestellt, wie veraltet das war. Pluto als Zwergplanet hat das ganze Satzende verändert, so dass sie sich nun „unseren Nachthimmel“ merken musste. Doch sie ist vorbereitet.
Nun ist er rechts in eine Seitenstrasse eingebogen, und sie folgt ihm mit Abstand. Für ein paar Schritte ist er ihrem Blick entschwunden, und ihre Fantasie erspinnt ersehnte Bilder. Was, wenn er stehen bleibt, um sie zu begrüssen?
„Du bist es!“, sagt er mit sanfter Stimme, und er nimmt sie zum ersten Mal bewusst wahr. „Wie schön du bist!“ Dann breitet er seine Arme aus, lädt sie ein, sich in sein weiches Flanell zu schmiegen. Ein männlicher Geruch strömt in ihre Nase, ein Aroma von Sandelholz und Eichenmoos. Langsam, ganz langsam hebt sie ihr Gesicht seinem Antlitz entgegen, und ihre Lippen sind bereit, warten ganz leicht geöffnet auf die Berührung. Wie wird er schmecken, wie wird sich sein praller Mund auf ihrem anfühlen?
Sie biegt um die Ecke und starrt in die Leere zwischen den Häusern. Der Wind heult, und seine Schritte tönen meilenweit entfernt. Tränen kriechen ihr in die Augen, und sie zieht sich die Kapuze tief in die Stirn.
Am Ende der Gasse schreitet er unbeirrt weiter. Der Strauss schwingt in seiner linken Hand, das Papier darum knistert leise durch die Bewegung. Er hat neue Blumen gekauft, die ersten Tulpen in dieser Jahreszeit. Damit sie ein wenig Frühling fühlen kann, hat er sich gedacht.
Es reicht ihm, die Freude auf ihrem Gesicht strahlen zu sehen, nur ihr Glück liegt ihm am Herzen. Irgendwann erkennt sie das, sieht sie ihn mit anderen Augen an.
Als sie ihn bemerkt, kommt sie gleich die Treppe hinunter. Weit offen hält sie das schwere Portal, und er bemerkt die Veränderung sofort an ihren Augen. Wie liebevoll sie schaut!
„Sind die für mich?“, fragt sie und nimmt erwartungsvoll den Strauss entgegen. Sie löst das Papier über den Spitzen und schnuppert mit Hingabe. „Wundervoll!“
„Ich bin für dich da, wenn du mich willst.“ Zum ersten Mal sagt er es ihr direkt, nicht zu Hause vor dem Rasierspiegel, nicht allein am Lenkrad, nicht vor sich hinmurmelnd in der Strasse.
So wird es dann wohl sein. Wie üblich ist die schwere Tür verschlossen, kein Mensch weit und breit. Im Abfallkorb neben dem Haus wirbeln Blütenblätter, Überbleibsel seiner letzten Gabe. Sein Mut schwindet, und unschlüssig klemmt er die Blumen hinter den Scheibenwischer eines Wagens an der Strasse.
Oben hinter der Gardine, von ihm unbemerkt, steht sie, das Objekt seiner Begierde.
„Immer dieser Mann!“, sagt sie leise zu sich selbst. „Kann er mich nicht in Ruhe lassen?“
Unwillig dreht sie sich um und geht durch den Raum. An der Wand gegenüber steht ihr Frisiertisch, und sie setzt sich vor den Spiegel und bürstet ihr langes Haar. Bürstenstrich für Bürstenstrich sitzt sie dort und lässt ihre Gedanken schweifen.
Sie seufzt. Auch sie hat ihre Liebe gesehen, aber es bleibt nur ein Traum, da ist sie sicher. Sofort hat sie gemerkt, dass es bei der Frau mit der Fellkapuze überhaupt nicht gefunkt hat.
«fricktal24.ch – die Online-Zeitung fürs Fricktal
zur Festigung und Bereicherung des Wissens»